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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Gegentheil: das Leben dieser Welt ist das dunkle, unbegreif-
liche Leben, das erst durch das Jenseits klar und licht wird;
hier bin ich ein vermummtes, verwickeltes Wesen; dort fällt
die Maske; dort bin ich, wie ich in Wahrheit bin. Die Be-
hauptung daher, es sei wohl ein anderes, ein himmlisches Le-
ben, aber was und wie es sei, das bleibe hier unerforschlich,
ist nur eine Erfindung des religiösen Skepticismus, der
auf absolutem Mißverstand der Religion beruht, weil er sich
gänzlich ihrem Wesen entfremdet hat. Das, was die irreli-
giös-religiöse Reflexion nur zum bekannten Bilde einer unbe-
kannten, aber dennoch gewissen Sache macht, das ist im Ur-
sprung, im ursprünglichen wahren Sinn der Religion nicht
Bild, sondern die Sache, das Wesen selbst. Der Unglaube,
der zugleich noch Glaube ist, setzt die Sache in Zweifel, aber
er ist zu gedankenlos und feig, um sie direct zu bezweifeln: er
setzt sie nur so in Zweifel, daß er das Bild oder die Vorstel-
lung bezweifelt, d. h. das Bild nur für ein Bild erklärt. Aber
die Unwahrheit und Nichtigkeit dieses Skepticismus ist schon
historisch constatirt. Wo man einmal zweifelt an der Reali-
tät der Bilder der Unsterblichkeit, zweifelt, daß man so existi-
ren könne, wie es der Glaube vorstellt, z. B. ohne materiellen,
wirklichen Leib oder ohne Geschlechtsdifferenz, da zweifelt man
auch bald an der jenseitigen Existenz überhaupt. Mit dem
Bilde fällt die Sache -- eben weil das Bild die Sache selbst ist.

Der Glaube an den Himmel oder überhaupt ein jenseiti-
ges Leben beruht auf einem Urtheil. Er spricht Lob und
Tadel aus; er ist kritischer Natur; er macht eine Blumen-
lese aus der Flora dieser Welt. Und dieses kritische Florile-
gium ist eben der Himmel. Was der Mensch schön, gut, an-
genehm findet, das ist für ihn das Sein, welches allein sein

Gegentheil: das Leben dieſer Welt iſt das dunkle, unbegreif-
liche Leben, das erſt durch das Jenſeits klar und licht wird;
hier bin ich ein vermummtes, verwickeltes Weſen; dort fällt
die Maske; dort bin ich, wie ich in Wahrheit bin. Die Be-
hauptung daher, es ſei wohl ein anderes, ein himmliſches Le-
ben, aber was und wie es ſei, das bleibe hier unerforſchlich,
iſt nur eine Erfindung des religiöſen Skepticismus, der
auf abſolutem Mißverſtand der Religion beruht, weil er ſich
gänzlich ihrem Weſen entfremdet hat. Das, was die irreli-
giös-religiöſe Reflexion nur zum bekannten Bilde einer unbe-
kannten, aber dennoch gewiſſen Sache macht, das iſt im Ur-
ſprung, im urſprünglichen wahren Sinn der Religion nicht
Bild, ſondern die Sache, das Weſen ſelbſt. Der Unglaube,
der zugleich noch Glaube iſt, ſetzt die Sache in Zweifel, aber
er iſt zu gedankenlos und feig, um ſie direct zu bezweifeln: er
ſetzt ſie nur ſo in Zweifel, daß er das Bild oder die Vorſtel-
lung bezweifelt, d. h. das Bild nur für ein Bild erklärt. Aber
die Unwahrheit und Nichtigkeit dieſes Skepticismus iſt ſchon
hiſtoriſch conſtatirt. Wo man einmal zweifelt an der Reali-
tät der Bilder der Unſterblichkeit, zweifelt, daß man ſo exiſti-
ren könne, wie es der Glaube vorſtellt, z. B. ohne materiellen,
wirklichen Leib oder ohne Geſchlechtsdifferenz, da zweifelt man
auch bald an der jenſeitigen Exiſtenz überhaupt. Mit dem
Bilde fällt die Sache — eben weil das Bild die Sache ſelbſt iſt.

Der Glaube an den Himmel oder überhaupt ein jenſeiti-
ges Leben beruht auf einem Urtheil. Er ſpricht Lob und
Tadel aus; er iſt kritiſcher Natur; er macht eine Blumen-
leſe aus der Flora dieſer Welt. Und dieſes kritiſche Florile-
gium iſt eben der Himmel. Was der Menſch ſchön, gut, an-
genehm findet, das iſt für ihn das Sein, welches allein ſein

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[236/0254] Gegentheil: das Leben dieſer Welt iſt das dunkle, unbegreif- liche Leben, das erſt durch das Jenſeits klar und licht wird; hier bin ich ein vermummtes, verwickeltes Weſen; dort fällt die Maske; dort bin ich, wie ich in Wahrheit bin. Die Be- hauptung daher, es ſei wohl ein anderes, ein himmliſches Le- ben, aber was und wie es ſei, das bleibe hier unerforſchlich, iſt nur eine Erfindung des religiöſen Skepticismus, der auf abſolutem Mißverſtand der Religion beruht, weil er ſich gänzlich ihrem Weſen entfremdet hat. Das, was die irreli- giös-religiöſe Reflexion nur zum bekannten Bilde einer unbe- kannten, aber dennoch gewiſſen Sache macht, das iſt im Ur- ſprung, im urſprünglichen wahren Sinn der Religion nicht Bild, ſondern die Sache, das Weſen ſelbſt. Der Unglaube, der zugleich noch Glaube iſt, ſetzt die Sache in Zweifel, aber er iſt zu gedankenlos und feig, um ſie direct zu bezweifeln: er ſetzt ſie nur ſo in Zweifel, daß er das Bild oder die Vorſtel- lung bezweifelt, d. h. das Bild nur für ein Bild erklärt. Aber die Unwahrheit und Nichtigkeit dieſes Skepticismus iſt ſchon hiſtoriſch conſtatirt. Wo man einmal zweifelt an der Reali- tät der Bilder der Unſterblichkeit, zweifelt, daß man ſo exiſti- ren könne, wie es der Glaube vorſtellt, z. B. ohne materiellen, wirklichen Leib oder ohne Geſchlechtsdifferenz, da zweifelt man auch bald an der jenſeitigen Exiſtenz überhaupt. Mit dem Bilde fällt die Sache — eben weil das Bild die Sache ſelbſt iſt. Der Glaube an den Himmel oder überhaupt ein jenſeiti- ges Leben beruht auf einem Urtheil. Er ſpricht Lob und Tadel aus; er iſt kritiſcher Natur; er macht eine Blumen- leſe aus der Flora dieſer Welt. Und dieſes kritiſche Florile- gium iſt eben der Himmel. Was der Menſch ſchön, gut, an- genehm findet, das iſt für ihn das Sein, welches allein ſein

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/254>, abgerufen am 24.11.2024.