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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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mir mehr gelten, als das Urtheil der zahllosen Menge. "Mache
der Schwärmer sich Schüler, wie Sand am Meere; der Sand
ist Sand; die Perle sei mein, Du o vernünftiger Freund!"
Die Beistimmung des Andern gilt mir daher für das Krite-
rium der Normalität, der Allgemeinheit, der Wahrheit meiner
Gedanken. Ich kann mich nicht so von mir absondern, um
vollkommen frei und interesselos mich beurtheilen zu können;
aber der Andere hat ein unpartheiisches Urtheil; durch ihn be-
richtige, ergänze, erweitre ich mein eignes Urtheil, meinen
eignen Geschmack, meine eigne Erkenntniß. Kurz, es findet
eine qualitative, kritische Differenz zwischen den Men-
schen statt. Aber das Christenthum löscht diese qualitativen
Unterschiede aus, es schlägt alle Menschen über einen Leisten,
betrachtet sie wie ein und dasselbe Individuum, weil es keinen
Unterschied zwischen der Gattung und dem Individuum kennt:
ein und dasselbe Heilmittel für alle Menschen ohne
Unterschied, ein und dasselbe Grund- und Erbübel in
allen.

Eben deßwegen, weil das Christenthum aus überschwäng-
licher Subjectivität nichts weiß von der Gattung, in welcher
allein die Lösung, die Rechtfertigung, die Versöhnung und
Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, be-
durfte es auch einer übernatürlichen, besondern, selbst wieder
nur persönlichen subjectiven Hülfe, um die Sünde zu überwin-
den. Wenn ich allein die Gattung bin, wenn außer mir keine
anderen, qualitativ anderen Menschen existiren oder, was völ-
lig eins ist, wenn kein Unterschied zwischen mir und den An-
dern ist, wenn wir Alle vollkommen gleich sind, wenn meine
Sünden nicht neutralisirt und paralysirt werden durch die
entgegengesetzten Eigenschaften anderer Menschen; so ist frei-

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mir mehr gelten, als das Urtheil der zahlloſen Menge. „Mache
der Schwärmer ſich Schüler, wie Sand am Meere; der Sand
iſt Sand; die Perle ſei mein, Du o vernünftiger Freund!“
Die Beiſtimmung des Andern gilt mir daher für das Krite-
rium der Normalität, der Allgemeinheit, der Wahrheit meiner
Gedanken. Ich kann mich nicht ſo von mir abſondern, um
vollkommen frei und intereſſelos mich beurtheilen zu können;
aber der Andere hat ein unpartheiiſches Urtheil; durch ihn be-
richtige, ergänze, erweitre ich mein eignes Urtheil, meinen
eignen Geſchmack, meine eigne Erkenntniß. Kurz, es findet
eine qualitative, kritiſche Differenz zwiſchen den Men-
ſchen ſtatt. Aber das Chriſtenthum löſcht dieſe qualitativen
Unterſchiede aus, es ſchlägt alle Menſchen über einen Leiſten,
betrachtet ſie wie ein und daſſelbe Individuum, weil es keinen
Unterſchied zwiſchen der Gattung und dem Individuum kennt:
ein und daſſelbe Heilmittel für alle Menſchen ohne
Unterſchied, ein und daſſelbe Grund- und Erbübel in
allen.

Eben deßwegen, weil das Chriſtenthum aus überſchwäng-
licher Subjectivität nichts weiß von der Gattung, in welcher
allein die Löſung, die Rechtfertigung, die Verſöhnung und
Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, be-
durfte es auch einer übernatürlichen, beſondern, ſelbſt wieder
nur perſönlichen ſubjectiven Hülfe, um die Sünde zu überwin-
den. Wenn ich allein die Gattung bin, wenn außer mir keine
anderen, qualitativ anderen Menſchen exiſtiren oder, was völ-
lig eins iſt, wenn kein Unterſchied zwiſchen mir und den An-
dern iſt, wenn wir Alle vollkommen gleich ſind, wenn meine
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[211/0229] mir mehr gelten, als das Urtheil der zahlloſen Menge. „Mache der Schwärmer ſich Schüler, wie Sand am Meere; der Sand iſt Sand; die Perle ſei mein, Du o vernünftiger Freund!“ Die Beiſtimmung des Andern gilt mir daher für das Krite- rium der Normalität, der Allgemeinheit, der Wahrheit meiner Gedanken. Ich kann mich nicht ſo von mir abſondern, um vollkommen frei und intereſſelos mich beurtheilen zu können; aber der Andere hat ein unpartheiiſches Urtheil; durch ihn be- richtige, ergänze, erweitre ich mein eignes Urtheil, meinen eignen Geſchmack, meine eigne Erkenntniß. Kurz, es findet eine qualitative, kritiſche Differenz zwiſchen den Men- ſchen ſtatt. Aber das Chriſtenthum löſcht dieſe qualitativen Unterſchiede aus, es ſchlägt alle Menſchen über einen Leiſten, betrachtet ſie wie ein und daſſelbe Individuum, weil es keinen Unterſchied zwiſchen der Gattung und dem Individuum kennt: ein und daſſelbe Heilmittel für alle Menſchen ohne Unterſchied, ein und daſſelbe Grund- und Erbübel in allen. Eben deßwegen, weil das Chriſtenthum aus überſchwäng- licher Subjectivität nichts weiß von der Gattung, in welcher allein die Löſung, die Rechtfertigung, die Verſöhnung und Heilung der Sünden und Mängel der Individuen liegt, be- durfte es auch einer übernatürlichen, beſondern, ſelbſt wieder nur perſönlichen ſubjectiven Hülfe, um die Sünde zu überwin- den. Wenn ich allein die Gattung bin, wenn außer mir keine anderen, qualitativ anderen Menſchen exiſtiren oder, was völ- lig eins iſt, wenn kein Unterſchied zwiſchen mir und den An- dern iſt, wenn wir Alle vollkommen gleich ſind, wenn meine Sünden nicht neutraliſirt und paralyſirt werden durch die entgegengeſetzten Eigenſchaften anderer Menſchen; ſo iſt frei- 14*

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/229>, abgerufen am 05.12.2024.