Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

dig, dieses universale, ideale Individuum für ein überschwäng-
liches, übernatürliches, himmlisches Wesen zu erklären. Ver-
kehrt ist es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Identi-
tät der Gattung und des Inviduums deduciren zu wollen;
denn es ist nur die Phantasie, die diese Identität bewerkstelligt,
die Phantasie, der nichts unmöglich -- dieselbe Phantasie, die
auch die Schöpferin der Wunder ist; denn das größte Wun-
der ist das Individuum, welches zugleich die Idee, die Gat-
tung, die Menschheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und
Unendlichkeit, d. h. der Gottheit ist. Verkehrt ist es daher
auch, den historisch dogmatischen Christus beizubehalten, aber
die Wunder auf die Seite zu schieben. Wenn Du das Prin-
cip festhältst, wie willst Du seine nothwendigen Consequenzen
verläugnen?

Die gänzliche Abwesenheit des Begriffes der Gattung im
Christenthum bekundet besonders die charakteristische Lehre des-
selben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen. Es
liegt nämlich dieser Lehre die Forderung zu Grunde, daß das
Individuum nicht ein Individuum sein soll, eine Forderung,
die aber selbst wieder zu ihrem Fundament die Voraussetzung
hat, daß das Individuum für sich selbst ein vollkommnes
Wesen, für sich selbst die adäquate Darstellung oder Existenz
der Gattung ist *). Es fehlt hier gänzlich die objective An-
schauung, das Bewußtsein, daß das Du zur Vollkommenheit
des Ich gehört, daß die Menschen erst zusammen den Men-

*) Allerdings ist das Individuum etwas Absolutes, in der Sprache
Leibnitz's, der Spiegel des Universums, des Unendlichen. Aber als
existirendes ist das Individuum selbst wieder nur ein bestimmter, indi-
vidueller, darum endlicher Spiegel des Unendlichen. Darum gibt es
viele Individuen.

dig, dieſes univerſale, ideale Individuum für ein überſchwäng-
liches, übernatürliches, himmliſches Weſen zu erklären. Ver-
kehrt iſt es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Identi-
tät der Gattung und des Inviduums deduciren zu wollen;
denn es iſt nur die Phantaſie, die dieſe Identität bewerkſtelligt,
die Phantaſie, der nichts unmöglich — dieſelbe Phantaſie, die
auch die Schöpferin der Wunder iſt; denn das größte Wun-
der iſt das Individuum, welches zugleich die Idee, die Gat-
tung, die Menſchheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und
Unendlichkeit, d. h. der Gottheit iſt. Verkehrt iſt es daher
auch, den hiſtoriſch dogmatiſchen Chriſtus beizubehalten, aber
die Wunder auf die Seite zu ſchieben. Wenn Du das Prin-
cip feſthältſt, wie willſt Du ſeine nothwendigen Conſequenzen
verläugnen?

Die gänzliche Abweſenheit des Begriffes der Gattung im
Chriſtenthum bekundet beſonders die charakteriſtiſche Lehre deſ-
ſelben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menſchen. Es
liegt nämlich dieſer Lehre die Forderung zu Grunde, daß das
Individuum nicht ein Individuum ſein ſoll, eine Forderung,
die aber ſelbſt wieder zu ihrem Fundament die Vorausſetzung
hat, daß das Individuum für ſich ſelbſt ein vollkommnes
Weſen, für ſich ſelbſt die adäquate Darſtellung oder Exiſtenz
der Gattung iſt *). Es fehlt hier gänzlich die objective An-
ſchauung, das Bewußtſein, daß das Du zur Vollkommenheit
des Ich gehört, daß die Menſchen erſt zuſammen den Men-

*) Allerdings iſt das Individuum etwas Abſolutes, in der Sprache
Leibnitz’s, der Spiegel des Univerſums, des Unendlichen. Aber als
exiſtirendes iſt das Individuum ſelbſt wieder nur ein beſtimmter, indi-
vidueller, darum endlicher Spiegel des Unendlichen. Darum gibt es
viele Individuen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0223" n="205"/>
dig, die&#x017F;es univer&#x017F;ale, ideale Individuum für ein über&#x017F;chwäng-<lb/>
liches, übernatürliches, himmli&#x017F;ches We&#x017F;en zu erklären. Ver-<lb/>
kehrt i&#x017F;t es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Identi-<lb/>
tät der Gattung und des Inviduums deduciren zu wollen;<lb/>
denn es i&#x017F;t nur die Phanta&#x017F;ie, die die&#x017F;e Identität bewerk&#x017F;telligt,<lb/>
die Phanta&#x017F;ie, der nichts unmöglich &#x2014; die&#x017F;elbe Phanta&#x017F;ie, die<lb/>
auch die Schöpferin der Wunder i&#x017F;t; denn das größte Wun-<lb/>
der i&#x017F;t das Individuum, welches zugleich die Idee, die Gat-<lb/>
tung, die Men&#x017F;chheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und<lb/>
Unendlichkeit, d. h. der Gottheit i&#x017F;t. Verkehrt i&#x017F;t es daher<lb/>
auch, den hi&#x017F;tori&#x017F;ch dogmati&#x017F;chen Chri&#x017F;tus beizubehalten, aber<lb/>
die Wunder auf die Seite zu &#x017F;chieben. Wenn Du das Prin-<lb/>
cip fe&#x017F;thält&#x017F;t, wie will&#x017F;t Du &#x017F;eine nothwendigen Con&#x017F;equenzen<lb/>
verläugnen?</p><lb/>
          <p>Die gänzliche Abwe&#x017F;enheit des Begriffes der Gattung im<lb/>
Chri&#x017F;tenthum bekundet be&#x017F;onders die charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Lehre de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Men&#x017F;chen. Es<lb/>
liegt nämlich die&#x017F;er Lehre die Forderung zu Grunde, daß das<lb/>
Individuum nicht ein Individuum &#x017F;ein &#x017F;oll, eine Forderung,<lb/>
die aber &#x017F;elb&#x017F;t wieder zu ihrem Fundament die Voraus&#x017F;etzung<lb/>
hat, daß das Individuum <hi rendition="#g">für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi> ein vollkommnes<lb/>
We&#x017F;en, für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t die adäquate Dar&#x017F;tellung oder Exi&#x017F;tenz<lb/>
der Gattung i&#x017F;t <note place="foot" n="*)">Allerdings i&#x017F;t das Individuum etwas Ab&#x017F;olutes, in der Sprache<lb/>
Leibnitz&#x2019;s, der Spiegel des Univer&#x017F;ums, des Unendlichen. Aber als<lb/>
exi&#x017F;tirendes i&#x017F;t das Individuum &#x017F;elb&#x017F;t wieder nur ein be&#x017F;timmter, indi-<lb/>
vidueller, darum endlicher Spiegel des Unendlichen. Darum gibt es<lb/><hi rendition="#g">viele</hi> Individuen.</note>. Es fehlt hier gänzlich die objective An-<lb/>
&#x017F;chauung, das Bewußt&#x017F;ein, daß das Du zur Vollkommenheit<lb/>
des Ich gehört, daß die Men&#x017F;chen er&#x017F;t zu&#x017F;ammen den Men-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0223] dig, dieſes univerſale, ideale Individuum für ein überſchwäng- liches, übernatürliches, himmliſches Weſen zu erklären. Ver- kehrt iſt es daher, aus der Vernunft die unmittelbare Identi- tät der Gattung und des Inviduums deduciren zu wollen; denn es iſt nur die Phantaſie, die dieſe Identität bewerkſtelligt, die Phantaſie, der nichts unmöglich — dieſelbe Phantaſie, die auch die Schöpferin der Wunder iſt; denn das größte Wun- der iſt das Individuum, welches zugleich die Idee, die Gat- tung, die Menſchheit in der Fülle ihrer Vollkommenheit und Unendlichkeit, d. h. der Gottheit iſt. Verkehrt iſt es daher auch, den hiſtoriſch dogmatiſchen Chriſtus beizubehalten, aber die Wunder auf die Seite zu ſchieben. Wenn Du das Prin- cip feſthältſt, wie willſt Du ſeine nothwendigen Conſequenzen verläugnen? Die gänzliche Abweſenheit des Begriffes der Gattung im Chriſtenthum bekundet beſonders die charakteriſtiſche Lehre deſ- ſelben von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menſchen. Es liegt nämlich dieſer Lehre die Forderung zu Grunde, daß das Individuum nicht ein Individuum ſein ſoll, eine Forderung, die aber ſelbſt wieder zu ihrem Fundament die Vorausſetzung hat, daß das Individuum für ſich ſelbſt ein vollkommnes Weſen, für ſich ſelbſt die adäquate Darſtellung oder Exiſtenz der Gattung iſt *). Es fehlt hier gänzlich die objective An- ſchauung, das Bewußtſein, daß das Du zur Vollkommenheit des Ich gehört, daß die Menſchen erſt zuſammen den Men- *) Allerdings iſt das Individuum etwas Abſolutes, in der Sprache Leibnitz’s, der Spiegel des Univerſums, des Unendlichen. Aber als exiſtirendes iſt das Individuum ſelbſt wieder nur ein beſtimmter, indi- vidueller, darum endlicher Spiegel des Unendlichen. Darum gibt es viele Individuen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/223
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/223>, abgerufen am 22.11.2024.