allgemeine Gesetz, der Centralpunkt der Politik*). Lassen wir die Schranke des Nationalbewußtseins fallen, so bekommen wir statt des Israeliten -- den Menschen. Wie der Israelite in Jehovah sein Nationalwesen vergegenständlichte, so vergegen- ständlichte sich der Christ in Gott sein von der Schranke der Nationalität befreites, menschliches und zwar subjectiv mensch- liches Wesen. Wie Israel das Bedürfniß, die Noth seiner Existenz zum Gesetz der Welt machte, wie es in diesem Bedürf- niß selbst seine politische Rachsucht vergötterte; so machte der Christ die Bedürfnisse des menschlichen Gemüths zu den abso- luten Mächten und Gesetzen der Welt. Die Wunder des Christenthums, die eben so wesentlich zur Charakteristik dessel- ben gehören, als die Wunder des A. T. zur Charakteristik des Judenthums, haben nicht das Wohl einer Nation zu ihrem Gegenstande, sondern das Wohl des Menschen -- aller- dings nur des christgläubigen, denn das Christenthum an- erkannte den Menschen nur unter der Bedingung, der Be- schränkung der Christlichkeit, im Widerspruch mit dem wahr- haft, dem universell menschlichen Herzen, aber diese verhäng- nißvolle Beschränkung kommt erst später zur Sprache. Das Christenthum hat den Egoismus des Judenthums zur Sub- jectivität vergeistigt -- obwohl sich auch innerhalb des Chri- stenthums diese Subjectivität wieder, z. B. im Herrnhutianis- mus, als purer Egoismus ausgesprochen -- das Verlangen nach irdischer Glückseligkeit, das Ziel der israelitischen Religion, in die Sehnsucht himmlischer Seligkeit, das Ziel des Christenthums, verwandelt.
*) "Der größte Theil der hebräischen Poesie, den man oft nur für geistlich hält, ist politisch." Herder.
allgemeine Geſetz, der Centralpunkt der Politik*). Laſſen wir die Schranke des Nationalbewußtſeins fallen, ſo bekommen wir ſtatt des Iſraeliten — den Menſchen. Wie der Iſraelite in Jehovah ſein Nationalweſen vergegenſtändlichte, ſo vergegen- ſtändlichte ſich der Chriſt in Gott ſein von der Schranke der Nationalität befreites, menſchliches und zwar ſubjectiv menſch- liches Weſen. Wie Iſrael das Bedürfniß, die Noth ſeiner Exiſtenz zum Geſetz der Welt machte, wie es in dieſem Bedürf- niß ſelbſt ſeine politiſche Rachſucht vergötterte; ſo machte der Chriſt die Bedürfniſſe des menſchlichen Gemüths zu den abſo- luten Mächten und Geſetzen der Welt. Die Wunder des Chriſtenthums, die eben ſo weſentlich zur Charakteriſtik deſſel- ben gehören, als die Wunder des A. T. zur Charakteriſtik des Judenthums, haben nicht das Wohl einer Nation zu ihrem Gegenſtande, ſondern das Wohl des Menſchen — aller- dings nur des chriſtgläubigen, denn das Chriſtenthum an- erkannte den Menſchen nur unter der Bedingung, der Be- ſchränkung der Chriſtlichkeit, im Widerſpruch mit dem wahr- haft, dem univerſell menſchlichen Herzen, aber dieſe verhäng- nißvolle Beſchränkung kommt erſt ſpäter zur Sprache. Das Chriſtenthum hat den Egoismus des Judenthums zur Sub- jectivität vergeiſtigt — obwohl ſich auch innerhalb des Chri- ſtenthums dieſe Subjectivität wieder, z. B. im Herrnhutianis- mus, als purer Egoismus ausgeſprochen — das Verlangen nach irdiſcher Glückſeligkeit, das Ziel der iſraelitiſchen Religion, in die Sehnſucht himmliſcher Seligkeit, das Ziel des Chriſtenthums, verwandelt.
*) „Der größte Theil der hebräiſchen Poeſie, den man oft nur fuͤr geiſtlich hält, iſt politiſch.“ Herder.
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allgemeine Geſetz, der Centralpunkt der Politik *). Laſſen wir
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Jehovah ſein Nationalweſen vergegenſtändlichte, ſo vergegen-
ſtändlichte ſich der Chriſt in Gott ſein von der Schranke der
Nationalität befreites, menſchliches und zwar ſubjectiv menſch-
liches Weſen. Wie Iſrael das Bedürfniß, die Noth ſeiner
Exiſtenz zum Geſetz der Welt machte, wie es in dieſem Bedürf-
niß ſelbſt ſeine politiſche Rachſucht vergötterte; ſo machte der
Chriſt die Bedürfniſſe des menſchlichen Gemüths zu den abſo-
luten Mächten und Geſetzen der Welt. Die Wunder des
Chriſtenthums, die eben ſo weſentlich zur Charakteriſtik deſſel-
ben gehören, als die Wunder des A. T. zur Charakteriſtik des
Judenthums, haben nicht das Wohl einer Nation zu ihrem
Gegenſtande, ſondern das Wohl des Menſchen — aller-
dings nur des chriſtgläubigen, denn das Chriſtenthum an-
erkannte den Menſchen nur unter der Bedingung, der Be-
ſchränkung der Chriſtlichkeit, im Widerſpruch mit dem wahr-
haft, dem univerſell menſchlichen Herzen, aber dieſe verhäng-
nißvolle Beſchränkung kommt erſt ſpäter zur Sprache. Das
Chriſtenthum hat den Egoismus des Judenthums zur Sub-
jectivität vergeiſtigt — obwohl ſich auch innerhalb des Chri-
ſtenthums dieſe Subjectivität wieder, z. B. im Herrnhutianis-
mus, als purer Egoismus ausgeſprochen — das Verlangen
nach irdiſcher Glückſeligkeit, das Ziel der iſraelitiſchen
Religion, in die Sehnſucht himmliſcher Seligkeit, das Ziel
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*) „Der größte Theil der hebräiſchen Poeſie, den man oft nur fuͤr
geiſtlich hält, iſt politiſch.“ Herder.
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/173>, abgerufen am 04.12.2024.
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