Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

bestätigt vor Allem der Entwicklungsgang der israelitischen
Religion. Daher der Satz der theologischen Halbheit, daß die
Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des
Menschengeschlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung
Gottes ist nichts andres als die Offenbarung, die Selbstent-
faltung des menschlichen Wesens. Nicht aus dem Creator ging
der supranaturalistische Egoismus der Juden hervor, son-
dern umgekehrt jener aus diesem: in der Creation rechtfertigte
nun gleichsam vor dem Forum seiner Vernunft der Israelite
seinen Egoismus.

Allerdings konnte sich auch der Israelite als Mensch, wie
leicht begreiflich, selbst schon aus praktischen Gründen, nicht der
theoretischen Anschauung und Bewunderung der Natur ent-
ziehen. Aber er feiert nur die Macht und Größe Jehovahs,
indem er die Macht und Größe der Natur feiert. Und diese
Macht Jehovahs hat sich am herrlichsten gezeigt in den Wun-
derwerken, die sie zum Besten Israels gethan. Es bezieht sich
also der Israelite in der Feier dieser Macht immer zuletzt auf
sich selbst; er feiert die Größe der Natur nur aus demselben
Interesse, aus welchem der Sieger die Stärke seines Gegners
vergrößert, um dadurch sein Selbstgefühl zu steigern, seinen
Ruhm zu verherrlichen. Groß und gewaltig ist die Natur,
die Jehovah gemacht, aber noch gewaltiger, noch größer ist
Israels Selbstgefühl. Um seinetwillen steht die Sonne stille;
um seinetwillen erbebt nach Philo bei der Verkündigung des
Gesetzes die Erde; kurz, um seinetwillen verändert die ganze
Natur ihr Wesen. "Die ganze Creatur, so ihre eigene
Art hatte, veränderte sich wieder nach Deinem Ge-
bote, dem sie dient, auf daß Deine Kinder unversehrt

beſtätigt vor Allem der Entwicklungsgang der iſraelitiſchen
Religion. Daher der Satz der theologiſchen Halbheit, daß die
Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des
Menſchengeſchlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung
Gottes iſt nichts andres als die Offenbarung, die Selbſtent-
faltung des menſchlichen Weſens. Nicht aus dem Creator ging
der ſupranaturaliſtiſche Egoismus der Juden hervor, ſon-
dern umgekehrt jener aus dieſem: in der Creation rechtfertigte
nun gleichſam vor dem Forum ſeiner Vernunft der Iſraelite
ſeinen Egoismus.

Allerdings konnte ſich auch der Iſraelite als Menſch, wie
leicht begreiflich, ſelbſt ſchon aus praktiſchen Gründen, nicht der
theoretiſchen Anſchauung und Bewunderung der Natur ent-
ziehen. Aber er feiert nur die Macht und Größe Jehovahs,
indem er die Macht und Größe der Natur feiert. Und dieſe
Macht Jehovahs hat ſich am herrlichſten gezeigt in den Wun-
derwerken, die ſie zum Beſten Iſraels gethan. Es bezieht ſich
alſo der Iſraelite in der Feier dieſer Macht immer zuletzt auf
ſich ſelbſt; er feiert die Größe der Natur nur aus demſelben
Intereſſe, aus welchem der Sieger die Stärke ſeines Gegners
vergrößert, um dadurch ſein Selbſtgefühl zu ſteigern, ſeinen
Ruhm zu verherrlichen. Groß und gewaltig iſt die Natur,
die Jehovah gemacht, aber noch gewaltiger, noch größer iſt
Iſraels Selbſtgefühl. Um ſeinetwillen ſteht die Sonne ſtille;
um ſeinetwillen erbebt nach Philo bei der Verkündigung des
Geſetzes die Erde; kurz, um ſeinetwillen verändert die ganze
Natur ihr Weſen. „Die ganze Creatur, ſo ihre eigene
Art hatte, veränderte ſich wieder nach Deinem Ge-
bote, dem ſie dient, auf daß Deine Kinder unverſehrt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0170" n="152"/>
be&#x017F;tätigt vor Allem der Entwicklungsgang der i&#x017F;raeliti&#x017F;chen<lb/>
Religion. Daher der Satz der theologi&#x017F;chen Halbheit, daß die<lb/>
Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des<lb/>
Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung<lb/>
Gottes i&#x017F;t nichts andres als die Offenbarung, die Selb&#x017F;tent-<lb/>
faltung des men&#x017F;chlichen We&#x017F;ens. Nicht aus dem Creator ging<lb/>
der <hi rendition="#g">&#x017F;upranaturali&#x017F;ti&#x017F;che</hi> Egoismus der Juden hervor, &#x017F;on-<lb/>
dern umgekehrt jener aus die&#x017F;em: in der Creation rechtfertigte<lb/>
nun gleich&#x017F;am vor dem Forum &#x017F;einer Vernunft der I&#x017F;raelite<lb/>
&#x017F;einen Egoismus.</p><lb/>
          <p>Allerdings konnte &#x017F;ich auch der I&#x017F;raelite als Men&#x017F;ch, wie<lb/>
leicht begreiflich, &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon aus prakti&#x017F;chen Gründen, nicht der<lb/>
theoreti&#x017F;chen An&#x017F;chauung und Bewunderung der Natur ent-<lb/>
ziehen. Aber er feiert nur die Macht und Größe Jehovahs,<lb/>
indem er die Macht und Größe der Natur feiert. Und die&#x017F;e<lb/>
Macht Jehovahs hat &#x017F;ich am herrlich&#x017F;ten gezeigt in den Wun-<lb/>
derwerken, die &#x017F;ie zum Be&#x017F;ten I&#x017F;raels gethan. Es bezieht &#x017F;ich<lb/>
al&#x017F;o der I&#x017F;raelite in der Feier die&#x017F;er Macht immer zuletzt auf<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t; er feiert die Größe der Natur nur aus dem&#x017F;elben<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e, aus welchem der Sieger die Stärke &#x017F;eines Gegners<lb/>
vergrößert, um dadurch &#x017F;ein Selb&#x017F;tgefühl zu &#x017F;teigern, &#x017F;einen<lb/>
Ruhm zu verherrlichen. Groß und gewaltig i&#x017F;t die Natur,<lb/>
die Jehovah gemacht, aber noch gewaltiger, noch größer i&#x017F;t<lb/>
I&#x017F;raels Selb&#x017F;tgefühl. Um &#x017F;einetwillen &#x017F;teht die Sonne &#x017F;tille;<lb/>
um &#x017F;einetwillen erbebt nach Philo bei der Verkündigung des<lb/>
Ge&#x017F;etzes die Erde; kurz, um &#x017F;einetwillen verändert die ganze<lb/>
Natur ihr We&#x017F;en. &#x201E;<hi rendition="#g">Die ganze Creatur, &#x017F;o ihre eigene<lb/>
Art hatte, veränderte &#x017F;ich wieder nach Deinem Ge-<lb/>
bote, dem &#x017F;ie dient, auf daß Deine Kinder unver&#x017F;ehrt<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0170] beſtätigt vor Allem der Entwicklungsgang der iſraelitiſchen Religion. Daher der Satz der theologiſchen Halbheit, daß die Offenbarung Gottes gleichen Schritt mit der Entwicklung des Menſchengeſchlechts hält. Natürlich; denn die Offenbarung Gottes iſt nichts andres als die Offenbarung, die Selbſtent- faltung des menſchlichen Weſens. Nicht aus dem Creator ging der ſupranaturaliſtiſche Egoismus der Juden hervor, ſon- dern umgekehrt jener aus dieſem: in der Creation rechtfertigte nun gleichſam vor dem Forum ſeiner Vernunft der Iſraelite ſeinen Egoismus. Allerdings konnte ſich auch der Iſraelite als Menſch, wie leicht begreiflich, ſelbſt ſchon aus praktiſchen Gründen, nicht der theoretiſchen Anſchauung und Bewunderung der Natur ent- ziehen. Aber er feiert nur die Macht und Größe Jehovahs, indem er die Macht und Größe der Natur feiert. Und dieſe Macht Jehovahs hat ſich am herrlichſten gezeigt in den Wun- derwerken, die ſie zum Beſten Iſraels gethan. Es bezieht ſich alſo der Iſraelite in der Feier dieſer Macht immer zuletzt auf ſich ſelbſt; er feiert die Größe der Natur nur aus demſelben Intereſſe, aus welchem der Sieger die Stärke ſeines Gegners vergrößert, um dadurch ſein Selbſtgefühl zu ſteigern, ſeinen Ruhm zu verherrlichen. Groß und gewaltig iſt die Natur, die Jehovah gemacht, aber noch gewaltiger, noch größer iſt Iſraels Selbſtgefühl. Um ſeinetwillen ſteht die Sonne ſtille; um ſeinetwillen erbebt nach Philo bei der Verkündigung des Geſetzes die Erde; kurz, um ſeinetwillen verändert die ganze Natur ihr Weſen. „Die ganze Creatur, ſo ihre eigene Art hatte, veränderte ſich wieder nach Deinem Ge- bote, dem ſie dient, auf daß Deine Kinder unverſehrt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/170
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/170>, abgerufen am 05.12.2024.