Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Sohn, auch der natürliche menschliche Sohn, ist an
und für sich ein Mittelwesen zwischen dem männlichen Wesen
des Vaters und dem weiblichen der Mutter; er ist gleichsam
noch halb Mann, halb Weib, indem er noch nicht das volle
rigorose Selbstständigkeitsbewußtsein hat, welches den Mann
charakterisirt, und mehr zur Mutter als zum Vater sich hinge-
zogen fühlt. Die Liebe des Sohnes zur Mutter ist die erste
Liebe des männlichen Wesens zum weiblichen. Die Liebe des
Mannes zum Weibe, des Jünglings zur Jungfrau empfängt
ihre religiöse -- ihre einzig wahre religiöse -- Weihe in der
Liebe des Sohns zur Mutter. Die Mutterliebe des Sohnes
ist die erste Sehnsucht, die erste Demuth des Mannes vor dem
Weibe.

Nothwendig ist daher auch mit dem Gedanken an den
Sohn Gottes der Gedanke an die Mutter Gottes verbun-
den -- dasselbe Herz das eines Sohnes Gottes, bedarf auch einer
Mutter Gottes. Wo der Sohn ist, da kann auch die Mutter
nicht fehlen. Dem Vater ist der Sohn eingeboren, aber dem
Sohne die Mutter. Dem Vater ersetzt der Sohn das Be-
dürfniß der Mutter, aber nicht der Vater dem Sohne. Dem
Sohne ist die Mutter unentbehrlich; das Herz des Sohnes ist
das Herz der Mutter. Warum wurde denn Gott der Sohn
nur im Weibe Mensch? Hätte der Allmächtige nicht auf an-
dere Weise, nicht unmittelbar als Mensch unter den Menschen
erscheinen können? Warum begab sich also der Sohn in einen
weiblichen Schooß? Warum anders, als weil der Sohn die

der heilige Geist ein weibliches Urwesen, aus deren geschlechtlicher Vermi-
schung der Sohn und mit ihm die Welt entstanden. Gfrörer Jahrh. d. H.
I. Abth. p. 332--34. Auch die Herrnhuter nannten den heil. Geist die
Mutter des Heilands.

Der Sohn, auch der natürliche menſchliche Sohn, iſt an
und für ſich ein Mittelweſen zwiſchen dem männlichen Weſen
des Vaters und dem weiblichen der Mutter; er iſt gleichſam
noch halb Mann, halb Weib, indem er noch nicht das volle
rigoroſe Selbſtſtändigkeitsbewußtſein hat, welches den Mann
charakteriſirt, und mehr zur Mutter als zum Vater ſich hinge-
zogen fühlt. Die Liebe des Sohnes zur Mutter iſt die erſte
Liebe des männlichen Weſens zum weiblichen. Die Liebe des
Mannes zum Weibe, des Jünglings zur Jungfrau empfängt
ihre religiöſe — ihre einzig wahre religiöſe — Weihe in der
Liebe des Sohns zur Mutter. Die Mutterliebe des Sohnes
iſt die erſte Sehnſucht, die erſte Demuth des Mannes vor dem
Weibe.

Nothwendig iſt daher auch mit dem Gedanken an den
Sohn Gottes der Gedanke an die Mutter Gottes verbun-
den — daſſelbe Herz das eines Sohnes Gottes, bedarf auch einer
Mutter Gottes. Wo der Sohn iſt, da kann auch die Mutter
nicht fehlen. Dem Vater iſt der Sohn eingeboren, aber dem
Sohne die Mutter. Dem Vater erſetzt der Sohn das Be-
dürfniß der Mutter, aber nicht der Vater dem Sohne. Dem
Sohne iſt die Mutter unentbehrlich; das Herz des Sohnes iſt
das Herz der Mutter. Warum wurde denn Gott der Sohn
nur im Weibe Menſch? Hätte der Allmächtige nicht auf an-
dere Weiſe, nicht unmittelbar als Menſch unter den Menſchen
erſcheinen können? Warum begab ſich alſo der Sohn in einen
weiblichen Schooß? Warum anders, als weil der Sohn die

der heilige Geiſt ein weibliches Urweſen, aus deren geſchlechtlicher Vermi-
ſchung der Sohn und mit ihm die Welt entſtanden. Gfrörer Jahrh. d. H.
I. Abth. p. 332—34. Auch die Herrnhuter nannten den heil. Geiſt die
Mutter des Heilands.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0100" n="82"/>
          <p>Der Sohn, auch der natürliche men&#x017F;chliche Sohn, i&#x017F;t an<lb/>
und für &#x017F;ich ein Mittelwe&#x017F;en zwi&#x017F;chen dem männlichen We&#x017F;en<lb/>
des Vaters und dem weiblichen der Mutter; er i&#x017F;t gleich&#x017F;am<lb/>
noch halb Mann, halb Weib, indem er noch nicht das volle<lb/>
rigoro&#x017F;e Selb&#x017F;t&#x017F;tändigkeitsbewußt&#x017F;ein hat, welches den Mann<lb/>
charakteri&#x017F;irt, und mehr zur Mutter als zum Vater &#x017F;ich hinge-<lb/>
zogen fühlt. Die Liebe des Sohnes zur Mutter i&#x017F;t die <hi rendition="#g">er&#x017F;te</hi><lb/>
Liebe des männlichen We&#x017F;ens zum weiblichen. Die Liebe des<lb/>
Mannes zum Weibe, des Jünglings zur Jungfrau empfängt<lb/>
ihre <hi rendition="#g">religiö&#x017F;e</hi> &#x2014; ihre einzig wahre religiö&#x017F;e &#x2014; Weihe in der<lb/>
Liebe des Sohns zur Mutter. Die Mutterliebe des Sohnes<lb/>
i&#x017F;t die er&#x017F;te Sehn&#x017F;ucht, die er&#x017F;te Demuth des Mannes vor dem<lb/>
Weibe.</p><lb/>
          <p>Nothwendig i&#x017F;t daher auch mit dem Gedanken an den<lb/><hi rendition="#g">Sohn Gottes</hi> der Gedanke an die <hi rendition="#g">Mutter Gottes</hi> verbun-<lb/>
den &#x2014; da&#x017F;&#x017F;elbe Herz das eines Sohnes Gottes, bedarf auch einer<lb/>
Mutter Gottes. Wo der Sohn i&#x017F;t, da kann auch die Mutter<lb/>
nicht fehlen. Dem Vater i&#x017F;t der Sohn eingeboren, aber dem<lb/>
Sohne die Mutter. Dem Vater er&#x017F;etzt der Sohn das Be-<lb/>
dürfniß der Mutter, aber nicht der Vater dem Sohne. Dem<lb/>
Sohne i&#x017F;t die Mutter unentbehrlich; das Herz des Sohnes i&#x017F;t<lb/>
das Herz der Mutter. Warum wurde denn Gott der Sohn<lb/>
nur im Weibe Men&#x017F;ch? Hätte der Allmächtige nicht auf an-<lb/>
dere Wei&#x017F;e, nicht unmittelbar als Men&#x017F;ch unter den Men&#x017F;chen<lb/>
er&#x017F;cheinen können? Warum begab &#x017F;ich al&#x017F;o der Sohn in einen<lb/>
weiblichen Schooß? Warum anders, als weil der Sohn die<lb/><note xml:id="note-0100" prev="#note-0099" place="foot" n="**)">der heilige Gei&#x017F;t ein weibliches Urwe&#x017F;en, aus deren ge&#x017F;chlechtlicher Vermi-<lb/>
&#x017F;chung der Sohn und mit ihm die Welt ent&#x017F;tanden. <hi rendition="#g">Gfrörer</hi> Jahrh. d. H.<lb/><hi rendition="#aq">I.</hi> Abth. <hi rendition="#aq">p.</hi> 332&#x2014;34. Auch die Herrnhuter nannten den heil. Gei&#x017F;t die<lb/><hi rendition="#g">Mutter</hi> des Heilands.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[82/0100] Der Sohn, auch der natürliche menſchliche Sohn, iſt an und für ſich ein Mittelweſen zwiſchen dem männlichen Weſen des Vaters und dem weiblichen der Mutter; er iſt gleichſam noch halb Mann, halb Weib, indem er noch nicht das volle rigoroſe Selbſtſtändigkeitsbewußtſein hat, welches den Mann charakteriſirt, und mehr zur Mutter als zum Vater ſich hinge- zogen fühlt. Die Liebe des Sohnes zur Mutter iſt die erſte Liebe des männlichen Weſens zum weiblichen. Die Liebe des Mannes zum Weibe, des Jünglings zur Jungfrau empfängt ihre religiöſe — ihre einzig wahre religiöſe — Weihe in der Liebe des Sohns zur Mutter. Die Mutterliebe des Sohnes iſt die erſte Sehnſucht, die erſte Demuth des Mannes vor dem Weibe. Nothwendig iſt daher auch mit dem Gedanken an den Sohn Gottes der Gedanke an die Mutter Gottes verbun- den — daſſelbe Herz das eines Sohnes Gottes, bedarf auch einer Mutter Gottes. Wo der Sohn iſt, da kann auch die Mutter nicht fehlen. Dem Vater iſt der Sohn eingeboren, aber dem Sohne die Mutter. Dem Vater erſetzt der Sohn das Be- dürfniß der Mutter, aber nicht der Vater dem Sohne. Dem Sohne iſt die Mutter unentbehrlich; das Herz des Sohnes iſt das Herz der Mutter. Warum wurde denn Gott der Sohn nur im Weibe Menſch? Hätte der Allmächtige nicht auf an- dere Weiſe, nicht unmittelbar als Menſch unter den Menſchen erſcheinen können? Warum begab ſich alſo der Sohn in einen weiblichen Schooß? Warum anders, als weil der Sohn die **) **) der heilige Geiſt ein weibliches Urweſen, aus deren geſchlechtlicher Vermi- ſchung der Sohn und mit ihm die Welt entſtanden. Gfrörer Jahrh. d. H. I. Abth. p. 332—34. Auch die Herrnhuter nannten den heil. Geiſt die Mutter des Heilands.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/100
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/100>, abgerufen am 05.12.2024.