daß wir der Natur einen großen Theil unsers Tages für die Ernährung und Erhaltung unsers Körpers hingeben müssen; wir verwenden einen noch größern auf selbst gewählte Kleinigkeiten, Geschäfte ohne Gewinn für Geist und Herz, auf die Thorheiten einer selbstgeschaffenen Schicklich- keits-Pflicht, die Langeweile gehaltloser Konver- sation und leerer Gastmähler, auf Krankheiten, die wir uns selbst zugezogen, auf unnützen Kum- mer, thörichte Freude und kindische Begierlich- keit. *) -- So vergeht uns ein Tag nach dem andern, und selten kommt einer, an dessen Schlusse wir mit frohem Selbstbewustsein sagen können: Wir haben gelebt, nicht bloß geathmet.
Können wir uns freuen, wenn traurige, bit- tre Erinnerungen uns am Ende des Jahres zuströmen, wenn wir auf der Schwelle des Neuen fühlen, daß wir den geheimen Kummer, der sich um unser Herz lagerte, das Elend, was in den verflossenen Tagen das Schicksal schwer auf unsern Nacken legte, mit hinüber in das anbrechende Jahr, und in unsere ganze irdische Zukunft neh- men werden? -- Wie Mancher steht heut arm und einsam auf dieser Schwelle, der noch vor einem Jahre reich und glücklich am Herzen der Liebe und Freundschaft lag! Wie Mancher, der noch bei dem letzten Jahresschlusse stolz sich in
eignem
*) Diese, und andre Stellen, nach Seneka.
daß wir der Natur einen großen Theil unſers Tages fuͤr die Ernaͤhrung und Erhaltung unſers Koͤrpers hingeben muͤſſen; wir verwenden einen noch groͤßern auf ſelbſt gewaͤhlte Kleinigkeiten, Geſchaͤfte ohne Gewinn fuͤr Geiſt und Herz, auf die Thorheiten einer ſelbſtgeſchaffenen Schicklich- keits-Pflicht, die Langeweile gehaltloſer Konver- ſation und leerer Gaſtmaͤhler, auf Krankheiten, die wir uns ſelbſt zugezogen, auf unnuͤtzen Kum- mer, thoͤrichte Freude und kindiſche Begierlich- keit. *) — So vergeht uns ein Tag nach dem andern, und ſelten kommt einer, an deſſen Schluſſe wir mit frohem Selbſtbewuſtſein ſagen koͤnnen: Wir haben gelebt, nicht bloß geathmet.
Koͤnnen wir uns freuen, wenn traurige, bit- tre Erinnerungen uns am Ende des Jahres zuſtroͤmen, wenn wir auf der Schwelle des Neuen fuͤhlen, daß wir den geheimen Kummer, der ſich um unſer Herz lagerte, das Elend, was in den verfloſſenen Tagen das Schickſal ſchwer auf unſern Nacken legte, mit hinuͤber in das anbrechende Jahr, und in unſere ganze irdiſche Zukunft neh- men werden? — Wie Mancher ſteht heut arm und einſam auf dieſer Schwelle, der noch vor einem Jahre reich und gluͤcklich am Herzen der Liebe und Freundſchaft lag! Wie Mancher, der noch bei dem letzten Jahresſchluſſe ſtolz ſich in
eignem
*) Dieſe, und andre Stellen, nach Seneka.
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daß wir der Natur einen großen Theil unſers
Tages fuͤr die Ernaͤhrung und Erhaltung unſers
Koͤrpers hingeben muͤſſen; wir verwenden einen
noch groͤßern auf ſelbſt gewaͤhlte Kleinigkeiten,
Geſchaͤfte ohne Gewinn fuͤr Geiſt und Herz, auf
die Thorheiten einer ſelbſtgeſchaffenen Schicklich-
keits-Pflicht, die Langeweile gehaltloſer Konver-
ſation und leerer Gaſtmaͤhler, auf Krankheiten,
die wir uns ſelbſt zugezogen, auf unnuͤtzen Kum-
mer, thoͤrichte Freude und kindiſche Begierlich-
keit. *) — So vergeht uns ein Tag nach dem
andern, und ſelten kommt einer, an deſſen Schluſſe
wir mit frohem Selbſtbewuſtſein ſagen koͤnnen:
Wir haben gelebt, nicht bloß geathmet.
Koͤnnen wir uns freuen, wenn traurige, bit-
tre Erinnerungen uns am Ende des Jahres
zuſtroͤmen, wenn wir auf der Schwelle des Neuen
fuͤhlen, daß wir den geheimen Kummer, der ſich
um unſer Herz lagerte, das Elend, was in den
verfloſſenen Tagen das Schickſal ſchwer auf unſern
Nacken legte, mit hinuͤber in das anbrechende
Jahr, und in unſere ganze irdiſche Zukunft neh-
men werden? — Wie Mancher ſteht heut arm
und einſam auf dieſer Schwelle, der noch vor
einem Jahre reich und gluͤcklich am Herzen der
Liebe und Freundſchaft lag! Wie Mancher, der
noch bei dem letzten Jahresſchluſſe ſtolz ſich in
eignem
*) Dieſe, und andre Stellen, nach Seneka.
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien01_1802/242>, abgerufen am 16.02.2025.
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