gewinnen hat, und was seine Würde fordert. Unter die hörbaren Fluthen der Zeit, denkt er an das allein Stetige in seinem Innern; und unter dem Schwanken einer ganzen Welt, sucht er seinen Standpunkt auf unerschütterlichem Grunde. -- So steht er auf der Grenze zweyer Jahre mit Ernst und unter großen Erwägungen; -- aber auch mit Freude? --
Können wir uns freuen, wenn dieser Augen- blick uns stärker, als irgend ein anderer, an die Kürze des Lebens erinnert? -- "Ein kom- mendes Jahr, wie weit hin dehnt sich sein Raum vor uns aus, und ach! wie schwindet er, wenn wir zurück sehn!" -- Es scheint der Raum einer Stunde, wenn wir es nach den Thaten messen, deren wir uns heller erinnern. -- Noch einige solcher Stunden, und unsere Laufbahn auf der bekannten Erde ist geschlossen! -- Kurz ist das Leben, aber lang die Pflicht, lang unsere Wün- sche, Plane und Hoffnungen. -- Oder sind wir so stolz, zu glauben, daß wir in so kurzer Zeit, die uns noch bevorsteht, die Vollkommenheit errei- chen werden, die wir nach Maßgabe unsrer Kraft und Vorübung erreichen sollen?
Können wir uns freuen, wenn wir am Schlusse des Jahres berechnen, wie viel dieses Zeitraums wir uns zugeeigenet, wie viel wir davon unserm Leben hinzugesetzt und wie viel wir da- von verloren haben? -- Die Zeit ist das einzige Gut mit dem es ehrenvoll ist zu geizen; und mit welchem sind wir verschwenderischer! Nicht genug,
gewinnen hat, und was ſeine Wuͤrde fordert. Unter die hoͤrbaren Fluthen der Zeit, denkt er an das allein Stetige in ſeinem Innern; und unter dem Schwanken einer ganzen Welt, ſucht er ſeinen Standpunkt auf unerſchuͤtterlichem Grunde. — So ſteht er auf der Grenze zweyer Jahre mit Ernſt und unter großen Erwaͤgungen; — aber auch mit Freude? —
Koͤnnen wir uns freuen, wenn dieſer Augen- blick uns ſtaͤrker, als irgend ein anderer, an die Kuͤrze des Lebens erinnert? — „Ein kom- mendes Jahr, wie weit hin dehnt ſich ſein Raum vor uns aus, und ach! wie ſchwindet er, wenn wir zuruͤck ſehn!“ — Es ſcheint der Raum einer Stunde, wenn wir es nach den Thaten meſſen, deren wir uns heller erinnern. — Noch einige ſolcher Stunden, und unſere Laufbahn auf der bekannten Erde iſt geſchloſſen! — Kurz iſt das Leben, aber lang die Pflicht, lang unſere Wuͤn- ſche, Plane und Hoffnungen. — Oder ſind wir ſo ſtolz, zu glauben, daß wir in ſo kurzer Zeit, die uns noch bevorſteht, die Vollkommenheit errei- chen werden, die wir nach Maßgabe unſrer Kraft und Voruͤbung erreichen ſollen?
Koͤnnen wir uns freuen, wenn wir am Schluſſe des Jahres berechnen, wie viel dieſes Zeitraums wir uns zugeeigenet, wie viel wir davon unſerm Leben hinzugeſetzt und wie viel wir da- von verloren haben? — Die Zeit iſt das einzige Gut mit dem es ehrenvoll iſt zu geizen; und mit welchem ſind wir verſchwenderiſcher! Nicht genug,
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gewinnen hat, und was ſeine Wuͤrde fordert.
Unter die hoͤrbaren Fluthen der Zeit, denkt er
an das allein Stetige in ſeinem Innern; und
unter dem Schwanken einer ganzen Welt, ſucht
er ſeinen Standpunkt auf unerſchuͤtterlichem
Grunde. — So ſteht er auf der Grenze zweyer
Jahre mit Ernſt und unter großen Erwaͤgungen; —
aber auch mit Freude? —
Koͤnnen wir uns freuen, wenn dieſer Augen-
blick uns ſtaͤrker, als irgend ein anderer, an die
Kuͤrze des Lebens erinnert? — „Ein kom-
mendes Jahr, wie weit hin dehnt ſich ſein Raum
vor uns aus, und ach! wie ſchwindet er, wenn
wir zuruͤck ſehn!“ — Es ſcheint der Raum einer
Stunde, wenn wir es nach den Thaten meſſen,
deren wir uns heller erinnern. — Noch einige
ſolcher Stunden, und unſere Laufbahn auf der
bekannten Erde iſt geſchloſſen! — Kurz iſt das
Leben, aber lang die Pflicht, lang unſere Wuͤn-
ſche, Plane und Hoffnungen. — Oder ſind wir ſo
ſtolz, zu glauben, daß wir in ſo kurzer Zeit, die
uns noch bevorſteht, die Vollkommenheit errei-
chen werden, die wir nach Maßgabe unſrer
Kraft und Voruͤbung erreichen ſollen?
Koͤnnen wir uns freuen, wenn wir am Schluſſe
des Jahres berechnen, wie viel dieſes Zeitraums
wir uns zugeeigenet, wie viel wir davon
unſerm Leben hinzugeſetzt und wie viel wir da-
von verloren haben? — Die Zeit iſt das einzige
Gut mit dem es ehrenvoll iſt zu geizen; und mit
welchem ſind wir verſchwenderiſcher! Nicht genug,
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien01_1802/241>, abgerufen am 16.02.2025.
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