Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.1. Die Reformation an Haupt und Gliedern. sich größtentheils aufgehoben. Weniger war dies letztere beimBeinkleid der Fall: wie bunt es auch aus Lappen und Läppchen in regelmäßiger oder unregelmäßiger Gestalt, in Blumen, Flam- men und andern Zierfiguren, zusammengesetzt war, so saß es doch straff gespannt um Knie und Schenkel, und gab den Moralisten immer noch dasselbe Aergerniß wie früher. Nur der Soldat, d. h. der Fußgänger, wie denn dieser damals den eigentlichen Sol- daten zu bilden begann, hatte sich wohl in seiner ungenirten Weise zu helfen gewußt, indem er einen Theil des Beinkleides, da wo es ihm lästig war, ohne weiteres wegließ. So sind denn auf colorirten Kriegsbildern dieser Zeit um die Scheide beider Jahrhunderte solche Kriegsleute eine gewöhnliche Erscheinung, welche das eine Bein -- vermuthlich das linke, welches bei ge- fälltem Spieß am meisten genirt war -- von dem halben Ober- schenkel herab bis unter das Knie oder selbst bis zum Schuh nackt tragen. Allein unmöglich konnte diese Weise zur herrschenden Mode für die ganze gebildete und ungebildete Christenwelt wer- den, welche grade so gut nach Freiheit rang und des ungehin- derten Gebrauchs der Glieder in gleichem Maße bedürftig war. Kein Fall in der ganzen Costümgeschichte ist lehrreicher als dieser für die Entwicklung und Entstehung neuer Trachtenformen. Es lag die reinste Nothwendigkeit zur Aenderung vor, und wer den unerbittlichen Zwang nicht ertragen konnte, suchte sich einstwei- len zu helfen in ähnlicher Weise wie der Soldat. So machten es fromme Pilgersleute, welche gleich jedem andern das enge Beinkleid trugen, straff in die hochgehenden Schuhe hineinge- zogen: auf ihrer langen, mühsamen Wanderung war es ein be- schwerliches Hinderniß und um ihm zu entrinnen, schnitten sie das ganze Stück vor dem Knie heraus, sodaß dieses bloß und blank vor Augen lag. Man hätte meinen können, daß ein wei- tes Beinkleid in Weise des heutigen am einfachsten und leichte- sten dem Bedürfniß entsprochen hätte: aber eine so totale Um- änderung mit einem Schlage ist völlig wider den Geist der Ent- wicklung in der Trachtengeschichte; drei Jahrhunderte mußten vergehen, drei Jahrhunderte mit einer Fülle von Formen, die 1. Die Reformation an Haupt und Gliedern. ſich größtentheils aufgehoben. Weniger war dies letztere beimBeinkleid der Fall: wie bunt es auch aus Lappen und Läppchen in regelmäßiger oder unregelmäßiger Geſtalt, in Blumen, Flam- men und andern Zierfiguren, zuſammengeſetzt war, ſo ſaß es doch ſtraff geſpannt um Knie und Schenkel, und gab den Moraliſten immer noch daſſelbe Aergerniß wie früher. Nur der Soldat, d. h. der Fußgänger, wie denn dieſer damals den eigentlichen Sol- daten zu bilden begann, hatte ſich wohl in ſeiner ungenirten Weiſe zu helfen gewußt, indem er einen Theil des Beinkleides, da wo es ihm läſtig war, ohne weiteres wegließ. So ſind denn auf colorirten Kriegsbildern dieſer Zeit um die Scheide beider Jahrhunderte ſolche Kriegsleute eine gewöhnliche Erſcheinung, welche das eine Bein — vermuthlich das linke, welches bei ge- fälltem Spieß am meiſten genirt war — von dem halben Ober- ſchenkel herab bis unter das Knie oder ſelbſt bis zum Schuh nackt tragen. Allein unmöglich konnte dieſe Weiſe zur herrſchenden Mode für die ganze gebildete und ungebildete Chriſtenwelt wer- den, welche grade ſo gut nach Freiheit rang und des ungehin- derten Gebrauchs der Glieder in gleichem Maße bedürftig war. Kein Fall in der ganzen Coſtümgeſchichte iſt lehrreicher als dieſer für die Entwicklung und Entſtehung neuer Trachtenformen. Es lag die reinſte Nothwendigkeit zur Aenderung vor, und wer den unerbittlichen Zwang nicht ertragen konnte, ſuchte ſich einſtwei- len zu helfen in ähnlicher Weiſe wie der Soldat. So machten es fromme Pilgersleute, welche gleich jedem andern das enge Beinkleid trugen, ſtraff in die hochgehenden Schuhe hineinge- zogen: auf ihrer langen, mühſamen Wanderung war es ein be- ſchwerliches Hinderniß und um ihm zu entrinnen, ſchnitten ſie das ganze Stück vor dem Knie heraus, ſodaß dieſes bloß und blank vor Augen lag. Man hätte meinen können, daß ein wei- tes Beinkleid in Weiſe des heutigen am einfachſten und leichte- ſten dem Bedürfniß entſprochen hätte: aber eine ſo totale Um- änderung mit einem Schlage iſt völlig wider den Geiſt der Ent- wicklung in der Trachtengeſchichte; drei Jahrhunderte mußten vergehen, drei Jahrhunderte mit einer Fülle von Formen, die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0043" n="31"/><fw place="top" type="header">1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.</fw><lb/> ſich größtentheils aufgehoben. Weniger war dies letztere beim<lb/> Beinkleid der Fall: wie bunt es auch aus Lappen und Läppchen<lb/> in regelmäßiger oder unregelmäßiger Geſtalt, in Blumen, Flam-<lb/> men und andern Zierfiguren, zuſammengeſetzt war, ſo ſaß es doch<lb/> ſtraff geſpannt um Knie und Schenkel, und gab den Moraliſten<lb/> immer noch daſſelbe Aergerniß wie früher. 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1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
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Beinkleid der Fall: wie bunt es auch aus Lappen und Läppchen
in regelmäßiger oder unregelmäßiger Geſtalt, in Blumen, Flam-
men und andern Zierfiguren, zuſammengeſetzt war, ſo ſaß es doch
ſtraff geſpannt um Knie und Schenkel, und gab den Moraliſten
immer noch daſſelbe Aergerniß wie früher. Nur der Soldat, d.
h. der Fußgänger, wie denn dieſer damals den eigentlichen Sol-
daten zu bilden begann, hatte ſich wohl in ſeiner ungenirten
Weiſe zu helfen gewußt, indem er einen Theil des Beinkleides,
da wo es ihm läſtig war, ohne weiteres wegließ. So ſind denn
auf colorirten Kriegsbildern dieſer Zeit um die Scheide beider
Jahrhunderte ſolche Kriegsleute eine gewöhnliche Erſcheinung,
welche das eine Bein — vermuthlich das linke, welches bei ge-
fälltem Spieß am meiſten genirt war — von dem halben Ober-
ſchenkel herab bis unter das Knie oder ſelbſt bis zum Schuh nackt
tragen. Allein unmöglich konnte dieſe Weiſe zur herrſchenden
Mode für die ganze gebildete und ungebildete Chriſtenwelt wer-
den, welche grade ſo gut nach Freiheit rang und des ungehin-
derten Gebrauchs der Glieder in gleichem Maße bedürftig war.
Kein Fall in der ganzen Coſtümgeſchichte iſt lehrreicher als dieſer
für die Entwicklung und Entſtehung neuer Trachtenformen. Es
lag die reinſte Nothwendigkeit zur Aenderung vor, und wer den
unerbittlichen Zwang nicht ertragen konnte, ſuchte ſich einſtwei-
len zu helfen in ähnlicher Weiſe wie der Soldat. So machten
es fromme Pilgersleute, welche gleich jedem andern das enge
Beinkleid trugen, ſtraff in die hochgehenden Schuhe hineinge-
zogen: auf ihrer langen, mühſamen Wanderung war es ein be-
ſchwerliches Hinderniß und um ihm zu entrinnen, ſchnitten ſie
das ganze Stück vor dem Knie heraus, ſodaß dieſes bloß und
blank vor Augen lag. Man hätte meinen können, daß ein wei-
tes Beinkleid in Weiſe des heutigen am einfachſten und leichte-
ſten dem Bedürfniß entſprochen hätte: aber eine ſo totale Um-
änderung mit einem Schlage iſt völlig wider den Geiſt der Ent-
wicklung in der Trachtengeſchichte; drei Jahrhunderte mußten
vergehen, drei Jahrhunderte mit einer Fülle von Formen, die
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