derte hin Paris und seinem Hofe die unbedingteste Herrschaft im Reich der Mode begründet.
Aber dieser universalistischen Richtung tritt eine andere, die particularistische, gegenüber. Es war eine der Folgen der großen Umgestaltung im sechszehnten Jahrhundert gewesen, daß mit der Schwächung des Reichsoberhaupts die Landeshoheit der Fürsten sich festigte und erweiterte, und somit die einzelnen größeren oder kleineren Herrschaften an Selbständigkeit gewannen, die allge- meinen Reichsinteressen aber zurücktraten. Wie losgerissene Tropfen für sich die Kugelgestalt wieder finden, so zieht sich jeder Landestheil zu einem eigenen für sich bestehenden Dasein zusam- men und schließt sich von den übrigen ab. Er führt nun ein po- litisches Leben für sich, welches nicht umhin kann, alsbald auch einen ihm eigenen socialen Charakter anzunehmen. Wie die Fürsten mit ihren Ländern, wo die angestrebte Centralisation auf admi- nistrativem Wege durch die mehr oder weniger absolute Regi- rungsform wesentlich befördert wurde, so machten es auch die Reichsstädte oder wer sonst Autonomie hatte. So geschah es auch weiter in den Ländern der größeren Fürsten, wo sich wieder kleinere und immer kleinere Kreise und Gebiete, durch admi- nistrative oder geographische Bedingungen begünstigt, von ein- ander trennten und je in sich zusammenschlossen bis auf das Amt, bis auf das Dorf herunter.
In Anbetracht der culturgeschichtlichen Folgen verdanken wir allerdings dieser Zerlegung und Zergliederung des deutschen Reichskörpers die Entwicklung des reichsten und mannigfachsten Geisteslebens und eine möglichste Verallgemeinerung von Bil- dung und Kenntnissen durch die Tiefen des Volks: aber sie be- günstigte auch die Entstehung des Spießbürgerthums, einer Er- scheinung, die dem Mittelalter fremd war. Der Spießbürger ist diese fleischgewordene Abschließung der kleinsten Kreise, die ab- solute Absperrung des socialen und politischen Horizontes inner- halb der Grenzen seiner Stadt oder seiner Gemeinde. Diese Beschränkung oder Beschränktheit erhält aber auch wieder eine ehrwürdige Seite, indem sie an dem, was sich langsam einwur-
1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
derte hin Paris und ſeinem Hofe die unbedingteſte Herrſchaft im Reich der Mode begründet.
Aber dieſer univerſaliſtiſchen Richtung tritt eine andere, die particulariſtiſche, gegenüber. Es war eine der Folgen der großen Umgeſtaltung im ſechszehnten Jahrhundert geweſen, daß mit der Schwächung des Reichsoberhaupts die Landeshoheit der Fürſten ſich feſtigte und erweiterte, und ſomit die einzelnen größeren oder kleineren Herrſchaften an Selbſtändigkeit gewannen, die allge- meinen Reichsintereſſen aber zurücktraten. Wie losgeriſſene Tropfen für ſich die Kugelgeſtalt wieder finden, ſo zieht ſich jeder Landestheil zu einem eigenen für ſich beſtehenden Daſein zuſam- men und ſchließt ſich von den übrigen ab. Er führt nun ein po- litiſches Leben für ſich, welches nicht umhin kann, alsbald auch einen ihm eigenen ſocialen Charakter anzunehmen. Wie die Fürſten mit ihren Ländern, wo die angeſtrebte Centraliſation auf admi- niſtrativem Wege durch die mehr oder weniger abſolute Regi- rungsform weſentlich befördert wurde, ſo machten es auch die Reichsſtädte oder wer ſonſt Autonomie hatte. So geſchah es auch weiter in den Ländern der größeren Fürſten, wo ſich wieder kleinere und immer kleinere Kreiſe und Gebiete, durch admi- niſtrative oder geographiſche Bedingungen begünſtigt, von ein- ander trennten und je in ſich zuſammenſchloſſen bis auf das Amt, bis auf das Dorf herunter.
In Anbetracht der culturgeſchichtlichen Folgen verdanken wir allerdings dieſer Zerlegung und Zergliederung des deutſchen Reichskörpers die Entwicklung des reichſten und mannigfachſten Geiſteslebens und eine möglichſte Verallgemeinerung von Bil- dung und Kenntniſſen durch die Tiefen des Volks: aber ſie be- günſtigte auch die Entſtehung des Spießbürgerthums, einer Er- ſcheinung, die dem Mittelalter fremd war. Der Spießbürger iſt dieſe fleiſchgewordene Abſchließung der kleinſten Kreiſe, die ab- ſolute Abſperrung des ſocialen und politiſchen Horizontes inner- halb der Grenzen ſeiner Stadt oder ſeiner Gemeinde. Dieſe Beſchränkung oder Beſchränktheit erhält aber auch wieder eine ehrwürdige Seite, indem ſie an dem, was ſich langſam einwur-
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1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
derte hin Paris und ſeinem Hofe die unbedingteſte Herrſchaft im
Reich der Mode begründet.
Aber dieſer univerſaliſtiſchen Richtung tritt eine andere, die
particulariſtiſche, gegenüber. Es war eine der Folgen der großen
Umgeſtaltung im ſechszehnten Jahrhundert geweſen, daß mit der
Schwächung des Reichsoberhaupts die Landeshoheit der Fürſten
ſich feſtigte und erweiterte, und ſomit die einzelnen größeren oder
kleineren Herrſchaften an Selbſtändigkeit gewannen, die allge-
meinen Reichsintereſſen aber zurücktraten. Wie losgeriſſene
Tropfen für ſich die Kugelgeſtalt wieder finden, ſo zieht ſich jeder
Landestheil zu einem eigenen für ſich beſtehenden Daſein zuſam-
men und ſchließt ſich von den übrigen ab. Er führt nun ein po-
litiſches Leben für ſich, welches nicht umhin kann, alsbald auch
einen ihm eigenen ſocialen Charakter anzunehmen. Wie die Fürſten
mit ihren Ländern, wo die angeſtrebte Centraliſation auf admi-
niſtrativem Wege durch die mehr oder weniger abſolute Regi-
rungsform weſentlich befördert wurde, ſo machten es auch die
Reichsſtädte oder wer ſonſt Autonomie hatte. So geſchah es
auch weiter in den Ländern der größeren Fürſten, wo ſich wieder
kleinere und immer kleinere Kreiſe und Gebiete, durch admi-
niſtrative oder geographiſche Bedingungen begünſtigt, von ein-
ander trennten und je in ſich zuſammenſchloſſen bis auf das Amt,
bis auf das Dorf herunter.
In Anbetracht der culturgeſchichtlichen Folgen verdanken
wir allerdings dieſer Zerlegung und Zergliederung des deutſchen
Reichskörpers die Entwicklung des reichſten und mannigfachſten
Geiſteslebens und eine möglichſte Verallgemeinerung von Bil-
dung und Kenntniſſen durch die Tiefen des Volks: aber ſie be-
günſtigte auch die Entſtehung des Spießbürgerthums, einer Er-
ſcheinung, die dem Mittelalter fremd war. Der Spießbürger iſt
dieſe fleiſchgewordene Abſchließung der kleinſten Kreiſe, die ab-
ſolute Abſperrung des ſocialen und politiſchen Horizontes inner-
halb der Grenzen ſeiner Stadt oder ſeiner Gemeinde. Dieſe
Beſchränkung oder Beſchränktheit erhält aber auch wieder eine
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/27>, abgerufen am 08.07.2024.
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