Aber darum wurde es nicht besser. Die Welt wurde nicht ernster, wenn auch grade zu derselben Zeit die Kunst und die Wissenschaft sich in raschem Flug zu völlig ungeahnter Höhe em- porschwangen, wenn auch die Buchdruckerkunst, kaum erfunden, die Geister mit ernsteren Dingen zu erfüllen suchte, wenn eine Erfindung der andern folgte, und das städtische Gewerbe überall zu künstlerischer Bedeutung erblühte. Es war ein lustiges, leicht- fertiges, eitles, phantastisch aufgeregtes Geschlecht, und alle war- nenden Stimmen, die strafenden Worte der Prediger, die beißen- den Verse der Satiriker schlugen vergebens ans sorglose Gewissen. Es war nicht aufzuschrecken aus dem Sinnentaumel. Die Mode trieb es immer toller, indem sie alle Form und alle Sitte zugleich verachtete. Da in Deutschland kein Hof war, der die Formen der Eleganz vorschrieb und beherrschte, wie in Frankreich und Bur- gund, so schien alles der individuellen Laune und Erfindungs- gabe überlassen, und das so sehr, daß die Obrigkeit hier und da ausdrücklich das Erfinden neuer Moden verbot. Das Herein- brechen burgundischer Trachten und niederländischer Stoffe ver- mehrte das Uebel, anstatt es einzuschränken, da sie die Willkür nicht zu unterdrücken vermochten.
Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit- tenlosigkeit aller Stände die wachsende Schamlosigkeit der Klei- dung in Bezug auf Enge, Kürze und Entblößung. Die Chro- nisten, die Dichter, die Prediger sind des Entsetzens in gleicher Weise voll und schildern zuweilen mit so harten und offenkun- digen Worten, daß wir sie hier nicht wiedergeben können. Die weisen Väter in den Städten mühten sich vergebens ab, auf ge- setzlichem Wege dem Uebel zu steuern. Noch am Ende des Jahr- hunderts bricht Sebastian Brant in die Worte aus:
"Pfui Schand der deutschen Nation! Was die Natur verdeckt will ha'n, Daß man das blößt und sehen läßt."
Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung der Frauen im Gedicht Kittel mit vollster Entrüstung geschildert. Der Dichter erzählt, die Hauptlöcher seien so weit, daß die Achsel
II. Das Mittelalter.
Aber darum wurde es nicht beſſer. Die Welt wurde nicht ernſter, wenn auch grade zu derſelben Zeit die Kunſt und die Wiſſenſchaft ſich in raſchem Flug zu völlig ungeahnter Höhe em- porſchwangen, wenn auch die Buchdruckerkunſt, kaum erfunden, die Geiſter mit ernſteren Dingen zu erfüllen ſuchte, wenn eine Erfindung der andern folgte, und das ſtädtiſche Gewerbe überall zu künſtleriſcher Bedeutung erblühte. Es war ein luſtiges, leicht- fertiges, eitles, phantaſtiſch aufgeregtes Geſchlecht, und alle war- nenden Stimmen, die ſtrafenden Worte der Prediger, die beißen- den Verſe der Satiriker ſchlugen vergebens ans ſorgloſe Gewiſſen. Es war nicht aufzuſchrecken aus dem Sinnentaumel. Die Mode trieb es immer toller, indem ſie alle Form und alle Sitte zugleich verachtete. Da in Deutſchland kein Hof war, der die Formen der Eleganz vorſchrieb und beherrſchte, wie in Frankreich und Bur- gund, ſo ſchien alles der individuellen Laune und Erfindungs- gabe überlaſſen, und das ſo ſehr, daß die Obrigkeit hier und da ausdrücklich das Erfinden neuer Moden verbot. Das Herein- brechen burgundiſcher Trachten und niederländiſcher Stoffe ver- mehrte das Uebel, anſtatt es einzuſchränken, da ſie die Willkür nicht zu unterdrücken vermochten.
Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit- tenloſigkeit aller Stände die wachſende Schamloſigkeit der Klei- dung in Bezug auf Enge, Kürze und Entblößung. Die Chro- niſten, die Dichter, die Prediger ſind des Entſetzens in gleicher Weiſe voll und ſchildern zuweilen mit ſo harten und offenkun- digen Worten, daß wir ſie hier nicht wiedergeben können. Die weiſen Väter in den Städten mühten ſich vergebens ab, auf ge- ſetzlichem Wege dem Uebel zu ſteuern. Noch am Ende des Jahr- hunderts bricht Sebaſtian Brant in die Worte aus:
„Pfui Schand der deutſchen Nation! Was die Natur verdeckt will ha’n, Daß man das blößt und ſehen läßt.“
Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung der Frauen im Gedicht Kittel mit vollſter Entrüſtung geſchildert. Der Dichter erzählt, die Hauptlöcher ſeien ſo weit, daß die Achſel
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II. Das Mittelalter.
Aber darum wurde es nicht beſſer. Die Welt wurde nicht
ernſter, wenn auch grade zu derſelben Zeit die Kunſt und die
Wiſſenſchaft ſich in raſchem Flug zu völlig ungeahnter Höhe em-
porſchwangen, wenn auch die Buchdruckerkunſt, kaum erfunden,
die Geiſter mit ernſteren Dingen zu erfüllen ſuchte, wenn eine
Erfindung der andern folgte, und das ſtädtiſche Gewerbe überall
zu künſtleriſcher Bedeutung erblühte. Es war ein luſtiges, leicht-
fertiges, eitles, phantaſtiſch aufgeregtes Geſchlecht, und alle war-
nenden Stimmen, die ſtrafenden Worte der Prediger, die beißen-
den Verſe der Satiriker ſchlugen vergebens ans ſorgloſe Gewiſſen.
Es war nicht aufzuſchrecken aus dem Sinnentaumel. Die Mode
trieb es immer toller, indem ſie alle Form und alle Sitte zugleich
verachtete. Da in Deutſchland kein Hof war, der die Formen der
Eleganz vorſchrieb und beherrſchte, wie in Frankreich und Bur-
gund, ſo ſchien alles der individuellen Laune und Erfindungs-
gabe überlaſſen, und das ſo ſehr, daß die Obrigkeit hier und da
ausdrücklich das Erfinden neuer Moden verbot. Das Herein-
brechen burgundiſcher Trachten und niederländiſcher Stoffe ver-
mehrte das Uebel, anſtatt es einzuſchränken, da ſie die Willkür
nicht zu unterdrücken vermochten.
Schlimmer noch war mit der allgemein zunehmenden Sit-
tenloſigkeit aller Stände die wachſende Schamloſigkeit der Klei-
dung in Bezug auf Enge, Kürze und Entblößung. Die Chro-
niſten, die Dichter, die Prediger ſind des Entſetzens in gleicher
Weiſe voll und ſchildern zuweilen mit ſo harten und offenkun-
digen Worten, daß wir ſie hier nicht wiedergeben können. Die
weiſen Väter in den Städten mühten ſich vergebens ab, auf ge-
ſetzlichem Wege dem Uebel zu ſteuern. Noch am Ende des Jahr-
hunderts bricht Sebaſtian Brant in die Worte aus:
„Pfui Schand der deutſchen Nation!
Was die Natur verdeckt will ha’n,
Daß man das blößt und ſehen läßt.“
Schon um die Mitte des Jahrhunderts wird die Decolletirung
der Frauen im Gedicht Kittel mit vollſter Entrüſtung geſchildert.
Der Dichter erzählt, die Hauptlöcher ſeien ſo weit, daß die Achſel
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/302>, abgerufen am 16.02.2025.
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