Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.II. Das Mittelalter. Ordnung und Schönheit einer überschwänglichen Laune Maß undZügel an. Aus dem Kirchenbau schwand mit der Schwere und Massenhaftigkeit des Mauerwerks die Enge und Finsterniß; die kleinen, weit gestellten Fenster in den dicken Wänden weiteten sich und hoben sich höher mit dem ganzen Lichtgeschoß; die Gewölbe legten sich heiter und frei statt der flachen Decke über die lichtge- füllten Räume; die Krypten, diese dumpfen, unterirdischen Kir- chen der Todten, widerstrebten nun dem Gefühl, denn "Man soll in lichter Weite Christenglauben sehn und Christes Ammet;" und endlich hob die aus dem Orient überkommene Anwendung Es ist natürlich, daß die ganze äußere Erscheinung der II. Das Mittelalter. Ordnung und Schönheit einer überſchwänglichen Laune Maß undZügel an. Aus dem Kirchenbau ſchwand mit der Schwere und Maſſenhaftigkeit des Mauerwerks die Enge und Finſterniß; die kleinen, weit geſtellten Fenſter in den dicken Wänden weiteten ſich und hoben ſich höher mit dem ganzen Lichtgeſchoß; die Gewölbe legten ſich heiter und frei ſtatt der flachen Decke über die lichtge- füllten Räume; die Krypten, dieſe dumpfen, unterirdiſchen Kir- chen der Todten, widerſtrebten nun dem Gefühl, denn „Man ſoll in lichter Weite Chriſtenglauben ſehn und Chriſtes Ammet;“ und endlich hob die aus dem Orient überkommene Anwendung Es iſt natürlich, daß die ganze äußere Erſcheinung der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0100" n="82"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Das Mittelalter.</fw><lb/> Ordnung und Schönheit einer überſchwänglichen Laune Maß und<lb/> Zügel an. Aus dem Kirchenbau ſchwand mit der Schwere und<lb/> Maſſenhaftigkeit des Mauerwerks die Enge und Finſterniß; die<lb/> kleinen, weit geſtellten Fenſter in den dicken Wänden weiteten ſich<lb/> und hoben ſich höher mit dem ganzen Lichtgeſchoß; die Gewölbe<lb/> legten ſich heiter und frei ſtatt der flachen Decke über die lichtge-<lb/> füllten Räume; die Krypten, dieſe dumpfen, unterirdiſchen Kir-<lb/> chen der Todten, widerſtrebten nun dem Gefühl, denn</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Man ſoll in lichter Weite</l><lb/> <l>Chriſtenglauben ſehn und Chriſtes Ammet;“</l> </lg><lb/> <p>und endlich hob die aus dem Orient überkommene Anwendung<lb/> des Spitzbogens die Maſſen und Flächen immer mehr auf, führte<lb/> die Gewölbe höher und leichter empor und wies dadurch mit einer<lb/> Andeutung auf die unendliche Höhe das andächtige Gemüth des<lb/> Gläubigen nach Oben. Gleichzeitig hatte man die ſtarre Leere der<lb/> einzelnen architektoniſchen Gliederungen gefühlt. Die Portale,<lb/> ſich mannigfacher und lebendiger gliedernd, umzogen ſich in ihren<lb/> Archivolten mit reichem Schmuck; das ſchwere Würfelcapitäl<lb/> umlegte ſeine ungeſchmückten Flächen mit reizendem und phanta-<lb/> ſtiſchem Ornament, Bandſtreifen oder Laubgewinde ſchlangen ſich<lb/> durcheinander herum in künſtlicher, aber muſterhafter Ordnung,<lb/> und dazwiſchen trieben wieder jene ſeltſamen Thiergeſtalten, bald<lb/> frei ſich bewegend, bald in Laubwerk übergehend und ſich verlau-<lb/> fend, ihr Spiel der Laune. Erſt farbiger Schmuck, dann Reliefs<lb/> und Einzelfiguren belebten die Flächen, die Portale und andere<lb/> Stellen; Capitäle und Laubwerk blitzten in Vergoldung; die<lb/> Fenſter füllten ſich mit Maßwerk, und durch die bunten, gemalten<lb/> Scheiben brach ein magiſches Flimmerlicht, das mit ſeinem unge-<lb/> wiſſen, farbigen Lüſtre harmoniſch ſtimmte zur verzückten Andacht<lb/> der in ſchwärmeriſches Sinnen verſunkenen Seele. —</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Es iſt natürlich, daß die ganze <hi rendition="#g">äußere Erſcheinung</hi> der<lb/> Menſchenwelt, aus deren veränderter geiſtigen Richtung alle dieſe<lb/> Umwandlungen vor ſich gingen, in gleichem Maße den Umſchwung<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0100]
II. Das Mittelalter.
Ordnung und Schönheit einer überſchwänglichen Laune Maß und
Zügel an. Aus dem Kirchenbau ſchwand mit der Schwere und
Maſſenhaftigkeit des Mauerwerks die Enge und Finſterniß; die
kleinen, weit geſtellten Fenſter in den dicken Wänden weiteten ſich
und hoben ſich höher mit dem ganzen Lichtgeſchoß; die Gewölbe
legten ſich heiter und frei ſtatt der flachen Decke über die lichtge-
füllten Räume; die Krypten, dieſe dumpfen, unterirdiſchen Kir-
chen der Todten, widerſtrebten nun dem Gefühl, denn
„Man ſoll in lichter Weite
Chriſtenglauben ſehn und Chriſtes Ammet;“
und endlich hob die aus dem Orient überkommene Anwendung
des Spitzbogens die Maſſen und Flächen immer mehr auf, führte
die Gewölbe höher und leichter empor und wies dadurch mit einer
Andeutung auf die unendliche Höhe das andächtige Gemüth des
Gläubigen nach Oben. Gleichzeitig hatte man die ſtarre Leere der
einzelnen architektoniſchen Gliederungen gefühlt. Die Portale,
ſich mannigfacher und lebendiger gliedernd, umzogen ſich in ihren
Archivolten mit reichem Schmuck; das ſchwere Würfelcapitäl
umlegte ſeine ungeſchmückten Flächen mit reizendem und phanta-
ſtiſchem Ornament, Bandſtreifen oder Laubgewinde ſchlangen ſich
durcheinander herum in künſtlicher, aber muſterhafter Ordnung,
und dazwiſchen trieben wieder jene ſeltſamen Thiergeſtalten, bald
frei ſich bewegend, bald in Laubwerk übergehend und ſich verlau-
fend, ihr Spiel der Laune. Erſt farbiger Schmuck, dann Reliefs
und Einzelfiguren belebten die Flächen, die Portale und andere
Stellen; Capitäle und Laubwerk blitzten in Vergoldung; die
Fenſter füllten ſich mit Maßwerk, und durch die bunten, gemalten
Scheiben brach ein magiſches Flimmerlicht, das mit ſeinem unge-
wiſſen, farbigen Lüſtre harmoniſch ſtimmte zur verzückten Andacht
der in ſchwärmeriſches Sinnen verſunkenen Seele. —
Es iſt natürlich, daß die ganze äußere Erſcheinung der
Menſchenwelt, aus deren veränderter geiſtigen Richtung alle dieſe
Umwandlungen vor ſich gingen, in gleichem Maße den Umſchwung
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