Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus Wolken, eh' im nächt'gen Land
Erwacht die Kreaturen,
Langt Gottes Hand,
Zieht durch die stillen Fluren
Gewaltig die Konturen,
Strom, Wald und Felsenwand.
Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft,
Aurora taucht die Strahlen
Verträumt in Duft,
Beginnt auf Berg und Thalen,
Ringsum ein himmlisch Malen
In Meer und Land und Luft.
Und durch die Stille, Lichtgeschmückt,
Aus wunderbaren Locken
Ein Engel blickt. --
Da rauscht der Wald erschrocken,
Da gehn die Morgenglocken,
Die Gipfel stehn verzückt.
O lichte Augen, ernst und mild,
Ich kann nicht von euch lassen!
Bald wieder wild
Stürmt's her von Sorg' und Hassen --
Durch die verworrnen Gassen
Führ mich, mein göttlich Bild!

Fortunat folgte dem Gesange, der von einem ent¬
fernten Flügel des Schlosses herzukommen schien. Die
hohe Thür war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬
fand sich in einer schönen, großen Kapelle, die durch
eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Gerüste stand
dort ein Maler, welcher in dieser stillen, kühlen Ein¬
samkeit, zwischen den von oben einfallenden Morgen¬
lichtern und den halbvollendeten betenden Gestalten

Aus Wolken, eh' im naͤcht'gen Land
Erwacht die Kreaturen,
Langt Gottes Hand,
Zieht durch die ſtillen Fluren
Gewaltig die Konturen,
Strom, Wald und Felſenwand.
Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft,
Aurora taucht die Strahlen
Vertraͤumt in Duft,
Beginnt auf Berg und Thalen,
Ringsum ein himmliſch Malen
In Meer und Land und Luft.
Und durch die Stille, Lichtgeſchmuͤckt,
Aus wunderbaren Locken
Ein Engel blickt. —
Da rauſcht der Wald erſchrocken,
Da gehn die Morgenglocken,
Die Gipfel ſtehn verzuͤckt.
O lichte Augen, ernſt und mild,
Ich kann nicht von euch laſſen!
Bald wieder wild
Stuͤrmt's her von Sorg' und Haſſen —
Durch die verworrnen Gaſſen
Fuͤhr mich, mein goͤttlich Bild!

Fortunat folgte dem Geſange, der von einem ent¬
fernten Fluͤgel des Schloſſes herzukommen ſchien. Die
hohe Thuͤr war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬
fand ſich in einer ſchoͤnen, großen Kapelle, die durch
eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Geruͤſte ſtand
dort ein Maler, welcher in dieſer ſtillen, kuͤhlen Ein¬
ſamkeit, zwiſchen den von oben einfallenden Morgen¬
lichtern und den halbvollendeten betenden Geſtalten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0096" n="89"/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l rendition="#et">Aus Wolken, eh' im na&#x0364;cht'gen Land</l><lb/>
              <l>Erwacht die Kreaturen,</l><lb/>
              <l>Langt Gottes Hand,</l><lb/>
              <l>Zieht durch die &#x017F;tillen Fluren</l><lb/>
              <l>Gewaltig die Konturen,</l><lb/>
              <l>Strom, Wald und Fel&#x017F;enwand.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l rendition="#et">Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft,</l><lb/>
              <l>Aurora taucht die Strahlen</l><lb/>
              <l>Vertra&#x0364;umt in Duft,</l><lb/>
              <l>Beginnt auf Berg und Thalen,</l><lb/>
              <l>Ringsum ein himmli&#x017F;ch Malen</l><lb/>
              <l>In Meer und Land und Luft.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l rendition="#et">Und durch die Stille, Lichtge&#x017F;chmu&#x0364;ckt,</l><lb/>
              <l>Aus wunderbaren Locken</l><lb/>
              <l>Ein Engel blickt. &#x2014;</l><lb/>
              <l>Da rau&#x017F;cht der Wald er&#x017F;chrocken,</l><lb/>
              <l>Da gehn die Morgenglocken,</l><lb/>
              <l>Die Gipfel &#x017F;tehn verzu&#x0364;ckt.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l rendition="#et">O lichte Augen, ern&#x017F;t und mild,</l><lb/>
              <l>Ich kann nicht von euch la&#x017F;&#x017F;en!</l><lb/>
              <l>Bald wieder wild</l><lb/>
              <l>Stu&#x0364;rmt's her von Sorg' und Ha&#x017F;&#x017F;en &#x2014;</l><lb/>
              <l>Durch die verworrnen Ga&#x017F;&#x017F;en</l><lb/>
              <l>Fu&#x0364;hr mich, mein go&#x0364;ttlich Bild!</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <p>Fortunat folgte dem Ge&#x017F;ange, der von einem ent¬<lb/>
fernten Flu&#x0364;gel des Schlo&#x017F;&#x017F;es herzukommen &#x017F;chien. Die<lb/>
hohe Thu&#x0364;r war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬<lb/>
fand &#x017F;ich in einer &#x017F;cho&#x0364;nen, großen Kapelle, die durch<lb/>
eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Geru&#x0364;&#x017F;te &#x017F;tand<lb/>
dort ein Maler, welcher in die&#x017F;er &#x017F;tillen, ku&#x0364;hlen Ein¬<lb/>
&#x017F;amkeit, zwi&#x017F;chen den von oben einfallenden Morgen¬<lb/>
lichtern und den halbvollendeten betenden Ge&#x017F;talten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[89/0096] Aus Wolken, eh' im naͤcht'gen Land Erwacht die Kreaturen, Langt Gottes Hand, Zieht durch die ſtillen Fluren Gewaltig die Konturen, Strom, Wald und Felſenwand. Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft, Aurora taucht die Strahlen Vertraͤumt in Duft, Beginnt auf Berg und Thalen, Ringsum ein himmliſch Malen In Meer und Land und Luft. Und durch die Stille, Lichtgeſchmuͤckt, Aus wunderbaren Locken Ein Engel blickt. — Da rauſcht der Wald erſchrocken, Da gehn die Morgenglocken, Die Gipfel ſtehn verzuͤckt. O lichte Augen, ernſt und mild, Ich kann nicht von euch laſſen! Bald wieder wild Stuͤrmt's her von Sorg' und Haſſen — Durch die verworrnen Gaſſen Fuͤhr mich, mein goͤttlich Bild! Fortunat folgte dem Geſange, der von einem ent¬ fernten Fluͤgel des Schloſſes herzukommen ſchien. Die hohe Thuͤr war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬ fand ſich in einer ſchoͤnen, großen Kapelle, die durch eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Geruͤſte ſtand dort ein Maler, welcher in dieſer ſtillen, kuͤhlen Ein¬ ſamkeit, zwiſchen den von oben einfallenden Morgen¬ lichtern und den halbvollendeten betenden Geſtalten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/96
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/96>, abgerufen am 25.11.2024.