Claudius, mit dem ich mich besonders gerne und lange unterhielt, immer viele Grüße mit. Es war damals mein größter, innigster Wunsch, ihn einmal in meinem Leben zu sehen.
Bald aber machte eine neue Epoche, die ent¬ scheidende für mein ganzes Leben, dieser Spielerey ein Ende. Mein Hofmeister fieng nemlich an, mir alle Sonntage aus der Leidensgeschichte Jesu vorzu¬ lesen. Ich hörte sehr aufmerksam zu. Bald wurde mir das periodische, immer wieder abgebrochene Vor¬ lesen zu langweilig. Ich nahm das Buch und las es für mich ganz aus. Ich kann es nicht mit Wor¬ ten beschreiben, was ich dabey empfand. Ich wein¬ te aus Herzensgrunde, daß ich schluchzte. Mein ganzes Wesen war davon erfüllt und durchdrungen, und ich begriff nicht, wie mein Hofmeister und alle Leute im Hause, die doch das alles schon lange wußten, nicht eben so gerührt waren und auf ihre alte Weise so ruhig fortleben konnten. --
Hier brach Friedrich plözlich ab, denn er be¬ merkte, daß Rosa fest eingeschlafen war. Eine schmerzliche Unlust flog ihn bey diesem Anblicke an. Was thu ich hier, sagte er zu sich selber, als alles so still um ihn geworden war, sind das meine Ent¬ schlüsse, meine großen Hoffnungen und Erwartun¬ gen, von denen meine Seele so voll war, als ich ausreißte? Was zerschlage ich den besten Theil meines Lebens in unnütze Abentheuer ohne allen Zweck, ohne alle rechte Thätigkeit? Dieser Leon¬
Claudius, mit dem ich mich beſonders gerne und lange unterhielt, immer viele Grüße mit. Es war damals mein größter, innigſter Wunſch, ihn einmal in meinem Leben zu ſehen.
Bald aber machte eine neue Epoche, die ent¬ ſcheidende für mein ganzes Leben, dieſer Spielerey ein Ende. Mein Hofmeiſter fieng nemlich an, mir alle Sonntage aus der Leidensgeſchichte Jeſu vorzu¬ leſen. Ich hörte ſehr aufmerkſam zu. Bald wurde mir das periodiſche, immer wieder abgebrochene Vor¬ leſen zu langweilig. Ich nahm das Buch und las es für mich ganz aus. Ich kann es nicht mit Wor¬ ten beſchreiben, was ich dabey empfand. Ich wein¬ te aus Herzensgrunde, daß ich ſchluchzte. Mein ganzes Weſen war davon erfüllt und durchdrungen, und ich begriff nicht, wie mein Hofmeiſter und alle Leute im Hauſe, die doch das alles ſchon lange wußten, nicht eben ſo gerührt waren und auf ihre alte Weiſe ſo ruhig fortleben konnten. —
Hier brach Friedrich plözlich ab, denn er be¬ merkte, daß Roſa feſt eingeſchlafen war. Eine ſchmerzliche Unluſt flog ihn bey dieſem Anblicke an. Was thu ich hier, ſagte er zu ſich ſelber, als alles ſo ſtill um ihn geworden war, ſind das meine Ent¬ ſchlüſſe, meine großen Hoffnungen und Erwartun¬ gen, von denen meine Seele ſo voll war, als ich ausreißte? Was zerſchlage ich den beſten Theil meines Lebens in unnütze Abentheuer ohne allen Zweck, ohne alle rechte Thätigkeit? Dieſer Leon¬
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Claudius, mit dem ich mich beſonders gerne und
lange unterhielt, immer viele Grüße mit. Es war
damals mein größter, innigſter Wunſch, ihn einmal
in meinem Leben zu ſehen.
Bald aber machte eine neue Epoche, die ent¬
ſcheidende für mein ganzes Leben, dieſer Spielerey
ein Ende. Mein Hofmeiſter fieng nemlich an, mir
alle Sonntage aus der Leidensgeſchichte Jeſu vorzu¬
leſen. Ich hörte ſehr aufmerkſam zu. Bald wurde
mir das periodiſche, immer wieder abgebrochene Vor¬
leſen zu langweilig. Ich nahm das Buch und las
es für mich ganz aus. Ich kann es nicht mit Wor¬
ten beſchreiben, was ich dabey empfand. Ich wein¬
te aus Herzensgrunde, daß ich ſchluchzte. Mein
ganzes Weſen war davon erfüllt und durchdrungen,
und ich begriff nicht, wie mein Hofmeiſter und alle
Leute im Hauſe, die doch das alles ſchon lange
wußten, nicht eben ſo gerührt waren und auf ihre
alte Weiſe ſo ruhig fortleben konnten. —
Hier brach Friedrich plözlich ab, denn er be¬
merkte, daß Roſa feſt eingeſchlafen war. Eine
ſchmerzliche Unluſt flog ihn bey dieſem Anblicke an.
Was thu ich hier, ſagte er zu ſich ſelber, als alles
ſo ſtill um ihn geworden war, ſind das meine Ent¬
ſchlüſſe, meine großen Hoffnungen und Erwartun¬
gen, von denen meine Seele ſo voll war, als ich
ausreißte? Was zerſchlage ich den beſten Theil
meines Lebens in unnütze Abentheuer ohne allen
Zweck, ohne alle rechte Thätigkeit? Dieſer Leon¬
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/88>, abgerufen am 27.11.2024.
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