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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Nachtigall schlug tief aus dem Garten, dazwischen
hörte ich noch manchmal Stimmen unter dem Fen¬
ster sprechen, bis ich endlich nach langer Zeit ein¬
schlummerte. Da kam es mir auf einmal vor, als
schiene der Mond sehr hell durch die Stube, mein
Bruder erhöbe sich aus seinem Bett und gienge
verschiedentlich im Zimmer herum, neige sich dann
über mein Bett und küsse mich. Aber ich konnte
mich durchaus nicht besinnen.

Den folgenden Morgen wachte ich später auf,
als gewöhnlich. Ich blickte sogleich nach dem Bet¬
te meines Bruders, und sah, nicht ohne Ahnung
und Schreck, daß es leer war. Ich lief schnell in
den Garten hinaus, da saß Angelina am Spring¬
brunnen und weinte heftig. Meine Pflegeältern
und alle im ganzen Hause waren heimlich, verwirrt
und verstört, und so erfuhr ich erst nach und nach,
daß Rudolph in dieser Nacht entflohen sey. Man
schickte Boten nach allen Seiten aus, aber keiner
brachte ihn mehr wieder.

Und habt ihr denn seitdem niemals wieder et¬
was von ihm gehört? fragte Rosa.

Es kam wohl die Nachricht, sagte Friedrich,
daß er sich bey einem Freykorps habe anwerben las¬
sen, nachher gar, daß er in einem Treffen geblie¬
ben sey. Aber aus späteren, einzelnen, abgebro¬
chenen Reden meiner Pflegeältern gelangte ich wohl
zu der Gewißheit, daß er noch am Leben seyn müs¬
se. Doch thaten sie sehr heimlich damit und hörten
sogleich auf zu sprechen, wenn ich hinzutrat; und

Nachtigall ſchlug tief aus dem Garten, dazwiſchen
hörte ich noch manchmal Stimmen unter dem Fen¬
ſter ſprechen, bis ich endlich nach langer Zeit ein¬
ſchlummerte. Da kam es mir auf einmal vor, als
ſchiene der Mond ſehr hell durch die Stube, mein
Bruder erhöbe ſich aus ſeinem Bett und gienge
verſchiedentlich im Zimmer herum, neige ſich dann
über mein Bett und küſſe mich. Aber ich konnte
mich durchaus nicht beſinnen.

Den folgenden Morgen wachte ich ſpäter auf,
als gewöhnlich. Ich blickte ſogleich nach dem Bet¬
te meines Bruders, und ſah, nicht ohne Ahnung
und Schreck, daß es leer war. Ich lief ſchnell in
den Garten hinaus, da ſaß Angelina am Spring¬
brunnen und weinte heftig. Meine Pflegeältern
und alle im ganzen Hauſe waren heimlich, verwirrt
und verſtört, und ſo erfuhr ich erſt nach und nach,
daß Rudolph in dieſer Nacht entflohen ſey. Man
ſchickte Boten nach allen Seiten aus, aber keiner
brachte ihn mehr wieder.

Und habt ihr denn ſeitdem niemals wieder et¬
was von ihm gehört? fragte Roſa.

Es kam wohl die Nachricht, ſagte Friedrich,
daß er ſich bey einem Freykorps habe anwerben laſ¬
ſen, nachher gar, daß er in einem Treffen geblie¬
ben ſey. Aber aus ſpäteren, einzelnen, abgebro¬
chenen Reden meiner Pflegeältern gelangte ich wohl
zu der Gewißheit, daß er noch am Leben ſeyn müſ¬
ſe. Doch thaten ſie ſehr heimlich damit und hörten
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[76/0082] Nachtigall ſchlug tief aus dem Garten, dazwiſchen hörte ich noch manchmal Stimmen unter dem Fen¬ ſter ſprechen, bis ich endlich nach langer Zeit ein¬ ſchlummerte. Da kam es mir auf einmal vor, als ſchiene der Mond ſehr hell durch die Stube, mein Bruder erhöbe ſich aus ſeinem Bett und gienge verſchiedentlich im Zimmer herum, neige ſich dann über mein Bett und küſſe mich. Aber ich konnte mich durchaus nicht beſinnen. Den folgenden Morgen wachte ich ſpäter auf, als gewöhnlich. Ich blickte ſogleich nach dem Bet¬ te meines Bruders, und ſah, nicht ohne Ahnung und Schreck, daß es leer war. Ich lief ſchnell in den Garten hinaus, da ſaß Angelina am Spring¬ brunnen und weinte heftig. Meine Pflegeältern und alle im ganzen Hauſe waren heimlich, verwirrt und verſtört, und ſo erfuhr ich erſt nach und nach, daß Rudolph in dieſer Nacht entflohen ſey. Man ſchickte Boten nach allen Seiten aus, aber keiner brachte ihn mehr wieder. Und habt ihr denn ſeitdem niemals wieder et¬ was von ihm gehört? fragte Roſa. Es kam wohl die Nachricht, ſagte Friedrich, daß er ſich bey einem Freykorps habe anwerben laſ¬ ſen, nachher gar, daß er in einem Treffen geblie¬ ben ſey. Aber aus ſpäteren, einzelnen, abgebro¬ chenen Reden meiner Pflegeältern gelangte ich wohl zu der Gewißheit, daß er noch am Leben ſeyn müſ¬ ſe. Doch thaten ſie ſehr heimlich damit und hörten ſogleich auf zu ſprechen, wenn ich hinzutrat; und

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/82>, abgerufen am 27.11.2024.