alterthümlichen Schlosse lief nemlich eine große stei¬ nerne Gallerie rings herum. Dort pflegten wir bey¬ de gewöhnlich des Abends zu sizen, und ich erinnere mich noch immer an den eignen, sehnsuchtsvollen Schauer, mit dem ich hinuntersah, wie der Abend blutroth hinter den schwarzen Wäldern versank und dann nach und nach alles dunkel wurde. Unsere alte Wärterin erzählte uns dann gewöhnlich das Mährchen von dem Kinde, dem die Mutter mit dem Kasten den Kopf abschlug und das darauf als ein schöner Vogel draussen auf den Bäumen sang. Rudolph, so hieß mein Bruder, lief oder ritt un¬ terdeß auf dem steinernen Geländer der Gallerie herum, daß mir vor Schwindel alle Sinne vergien¬ gen. Und in dieser Stellung schwebt mir sein Bild noch immer vor, das ich von dem Mährchen, den schwarzen Wäldern unten und den seltsamen Abend¬ lichtern gar nicht trennen kann. Da er wenig lern¬ te und noch weniger gehorchte, wurde er kalt und übel behandelt. Oft wurde ich ihm als Muster vor¬ gestellt, und dieß war mein größter und tiefster Schmerz, den ich damals hatte, denn ich liebte ihn unaussprechlich. Aber er achtete wenig darauf. Das schöne italiänische Mädchen fürchtete sich vor ihm, so oft sie mit ihm zusammen kam, und doch schien sie ihn immer wieder von neuem aufzusuchen. Mit mir dagegen war sie sehr vertraulich und oft ausgelassen lustig. Alle Morgen, wenn es schön war, gieng sie in den Garten hinunter und wusch sich an der Wasserkunst die hellen Augen und den kleinen, weißen Hals, und ich mußte ihr während¬
alterthümlichen Schloſſe lief nemlich eine große ſtei¬ nerne Gallerie rings herum. Dort pflegten wir bey¬ de gewöhnlich des Abends zu ſizen, und ich erinnere mich noch immer an den eignen, ſehnſuchtsvollen Schauer, mit dem ich hinunterſah, wie der Abend blutroth hinter den ſchwarzen Wäldern verſank und dann nach und nach alles dunkel wurde. Unſere alte Wärterin erzählte uns dann gewöhnlich das Mährchen von dem Kinde, dem die Mutter mit dem Kaſten den Kopf abſchlug und das darauf als ein ſchöner Vogel drauſſen auf den Bäumen ſang. Rudolph, ſo hieß mein Bruder, lief oder ritt un¬ terdeß auf dem ſteinernen Geländer der Gallerie herum, daß mir vor Schwindel alle Sinne vergien¬ gen. Und in dieſer Stellung ſchwebt mir ſein Bild noch immer vor, das ich von dem Mährchen, den ſchwarzen Wäldern unten und den ſeltſamen Abend¬ lichtern gar nicht trennen kann. Da er wenig lern¬ te und noch weniger gehorchte, wurde er kalt und übel behandelt. Oft wurde ich ihm als Muſter vor¬ geſtellt, und dieß war mein größter und tiefſter Schmerz, den ich damals hatte, denn ich liebte ihn unausſprechlich. Aber er achtete wenig darauf. Das ſchöne italiäniſche Mädchen fürchtete ſich vor ihm, ſo oft ſie mit ihm zuſammen kam, und doch ſchien ſie ihn immer wieder von neuem aufzuſuchen. Mit mir dagegen war ſie ſehr vertraulich und oft ausgelaſſen luſtig. Alle Morgen, wenn es ſchön war, gieng ſie in den Garten hinunter und wuſch ſich an der Waſſerkunſt die hellen Augen und den kleinen, weißen Hals, und ich mußte ihr während¬
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alterthümlichen Schloſſe lief nemlich eine große ſtei¬
nerne Gallerie rings herum. Dort pflegten wir bey¬
de gewöhnlich des Abends zu ſizen, und ich erinnere
mich noch immer an den eignen, ſehnſuchtsvollen
Schauer, mit dem ich hinunterſah, wie der Abend
blutroth hinter den ſchwarzen Wäldern verſank und
dann nach und nach alles dunkel wurde. Unſere
alte Wärterin erzählte uns dann gewöhnlich das
Mährchen von dem Kinde, dem die Mutter mit
dem Kaſten den Kopf abſchlug und das darauf als
ein ſchöner Vogel drauſſen auf den Bäumen ſang.
Rudolph, ſo hieß mein Bruder, lief oder ritt un¬
terdeß auf dem ſteinernen Geländer der Gallerie
herum, daß mir vor Schwindel alle Sinne vergien¬
gen. Und in dieſer Stellung ſchwebt mir ſein Bild
noch immer vor, das ich von dem Mährchen, den
ſchwarzen Wäldern unten und den ſeltſamen Abend¬
lichtern gar nicht trennen kann. Da er wenig lern¬
te und noch weniger gehorchte, wurde er kalt und
übel behandelt. Oft wurde ich ihm als Muſter vor¬
geſtellt, und dieß war mein größter und tiefſter
Schmerz, den ich damals hatte, denn ich liebte ihn
unausſprechlich. Aber er achtete wenig darauf.
Das ſchöne italiäniſche Mädchen fürchtete ſich vor
ihm, ſo oft ſie mit ihm zuſammen kam, und doch
ſchien ſie ihn immer wieder von neuem aufzuſuchen.
Mit mir dagegen war ſie ſehr vertraulich und oft
ausgelaſſen luſtig. Alle Morgen, wenn es ſchön
war, gieng ſie in den Garten hinunter und wuſch
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/77>, abgerufen am 26.11.2024.
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