Sie schlugen daher die ohngefähre Richtung ein, sich über den melankolischen Rudolph besprechend. Als sie nach langem Irren eben auf einer Höhe angelangt waren, hörten sie plötzlich mehrere leb¬ hafte Stimmen vor sich. Ein undurchdringliches Dickicht, durch welches von dieser Seite kein Ein¬ gang möglich war, trennte sie von den Sprechen¬ den. Leontin bog die obersten Zweige mit Gewalt auseinander: da eröffnete sich ihnen auf einmal das seltsamste Gesicht. Mehrere auffallende Figuren nemlich, worunter sie sogleich Marie'n, den Kar¬ funkelsteinspäher und den Ritter von Gestern er¬ kannten, lagen und sassen dort auf einer grünen Wiese zerstreut umher. Die große Einsamkeit, die fremdartigen, zum Theil ritterlichen Trachten, wo¬ mit die meisten angethan, gaben der Gruppe ein überraschendes, buntes und wundersames Anseh'n, als ob ein Zug von Rittern und Frauen aus alter Zeit hier ausraste.
Marie war ihnen besonders nahe, doch ohne sie zu bemerken. Sie war mit langen Kränzen von Gras behangen und hatte eine Guitarre vor sich auf dem Schooße. Auf dieser spielte sie und sang das Lied, das sie damals auf dem Rehe gesungen, als sie Friedrich zum erstenmale auf der Wiese bey Leontins Schlosse traf. Nach der ersten Strophe hielt sie, in Gedanken verlohren, inne, als wollte sie sich auf das weitere besinnen, und fieng dann das Lied immer wieder von Anfang an. --
Sie ſchlugen daher die ohngefähre Richtung ein, ſich über den melankoliſchen Rudolph beſprechend. Als ſie nach langem Irren eben auf einer Höhe angelangt waren, hörten ſie plötzlich mehrere leb¬ hafte Stimmen vor ſich. Ein undurchdringliches Dickicht, durch welches von dieſer Seite kein Ein¬ gang möglich war, trennte ſie von den Sprechen¬ den. Leontin bog die oberſten Zweige mit Gewalt auseinander: da eröffnete ſich ihnen auf einmal das ſeltſamſte Geſicht. Mehrere auffallende Figuren nemlich, worunter ſie ſogleich Marie'n, den Kar¬ funkelſteinſpäher und den Ritter von Geſtern er¬ kannten, lagen und ſaſſen dort auf einer grünen Wieſe zerſtreut umher. Die große Einſamkeit, die fremdartigen, zum Theil ritterlichen Trachten, wo¬ mit die meiſten angethan, gaben der Gruppe ein überraſchendes, buntes und wunderſames Anſeh'n, als ob ein Zug von Rittern und Frauen aus alter Zeit hier ausraſte.
Marie war ihnen beſonders nahe, doch ohne ſie zu bemerken. Sie war mit langen Kränzen von Gras behangen und hatte eine Guitarre vor ſich auf dem Schooße. Auf dieſer ſpielte ſie und ſang das Lied, das ſie damals auf dem Rehe geſungen, als ſie Friedrich zum erſtenmale auf der Wieſe bey Leontins Schloſſe traf. Nach der erſten Strophe hielt ſie, in Gedanken verlohren, inne, als wollte ſie ſich auf das weitere beſinnen, und fieng dann das Lied immer wieder von Anfang an. —
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Sie ſchlugen daher die ohngefähre Richtung ein,
ſich über den melankoliſchen Rudolph beſprechend.
Als ſie nach langem Irren eben auf einer Höhe
angelangt waren, hörten ſie plötzlich mehrere leb¬
hafte Stimmen vor ſich. Ein undurchdringliches
Dickicht, durch welches von dieſer Seite kein Ein¬
gang möglich war, trennte ſie von den Sprechen¬
den. Leontin bog die oberſten Zweige mit Gewalt
auseinander: da eröffnete ſich ihnen auf einmal das
ſeltſamſte Geſicht. Mehrere auffallende Figuren
nemlich, worunter ſie ſogleich Marie'n, den Kar¬
funkelſteinſpäher und den Ritter von Geſtern er¬
kannten, lagen und ſaſſen dort auf einer grünen
Wieſe zerſtreut umher. Die große Einſamkeit, die
fremdartigen, zum Theil ritterlichen Trachten, wo¬
mit die meiſten angethan, gaben der Gruppe ein
überraſchendes, buntes und wunderſames Anſeh'n,
als ob ein Zug von Rittern und Frauen aus alter
Zeit hier ausraſte.
Marie war ihnen beſonders nahe, doch ohne
ſie zu bemerken. Sie war mit langen Kränzen von
Gras behangen und hatte eine Guitarre vor ſich
auf dem Schooße. Auf dieſer ſpielte ſie und ſang
das Lied, das ſie damals auf dem Rehe geſungen,
als ſie Friedrich zum erſtenmale auf der Wieſe bey
Leontins Schloſſe traf. Nach der erſten Strophe
hielt ſie, in Gedanken verlohren, inne, als wollte
ſie ſich auf das weitere beſinnen, und fieng dann das
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/418>, abgerufen am 23.11.2024.
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