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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Wie dem Schweizer in der Fremde, wenn plötz¬
lich ein Alphorn ertönt, alle Berge und Thäler,
die ihn von der Heimath scheiden, in dem Klange
versinken, und er sieht die Gletscher wieder und
den alten, stillen Garten am Bergeshange und al¬
le die morgenfrische Aussicht in das Wunderreich
der Kindheit, so fiel auch Friedrich'n bey dem Tone
dieser Stimme die mühsame Wand eines langen,
verworrenen Lebens von der Seele nieder: -- er
erkannte seinen wilden Bruder Rudolph, der als
Knabe fortgelaufen war, und von dem er seitdem
nie wieder etwas gehört hatte.

Keine ruhige, segensreiche Vergangenheit schien
aus diesen dunkelglühenden Blicken hervorzusehen,
eine Narbe über dem rechten Auge entstellte ihn
seltsam. Leontin stand still dabey und betrachtete
ihn aufmerksam, denn es war wirklich dasselbe
Bild, das ihm mitten im bunten Leben oft so schau¬
rig begegnet. O, mein lieber Bruder, sagte Frie¬
drich, so habe ich dich denn wirklich wieder! Ich
habe dich immer geliebt. Und als ich dann größer
wurde und die Welt immer kleiner und enger, und
alles so Wunderlos und zahm, wie oft hab' ich da
an dich zurückgedacht und mich nach deinem wunder¬
baren härteren Wesen gesehnt! -- Rudolph schien
wenig auf diese Worte zu achten, sondern wandte
sich zu Leontinen um und sagte: Wie geht es Euch,
mein Signor Amoroso? Durch diesen Wald geht
kein Weg zum Liebchen. -- Und keiner in der Welt
mehr, fiel ihm Leontin, der wohl wußte, was er

Wie dem Schweizer in der Fremde, wenn plötz¬
lich ein Alphorn ertönt, alle Berge und Thäler,
die ihn von der Heimath ſcheiden, in dem Klange
verſinken, und er ſieht die Gletſcher wieder und
den alten, ſtillen Garten am Bergeshange und al¬
le die morgenfriſche Ausſicht in das Wunderreich
der Kindheit, ſo fiel auch Friedrich'n bey dem Tone
dieſer Stimme die mühſame Wand eines langen,
verworrenen Lebens von der Seele nieder: — er
erkannte ſeinen wilden Bruder Rudolph, der als
Knabe fortgelaufen war, und von dem er ſeitdem
nie wieder etwas gehört hatte.

Keine ruhige, ſegensreiche Vergangenheit ſchien
aus dieſen dunkelglühenden Blicken hervorzuſehen,
eine Narbe über dem rechten Auge entſtellte ihn
ſeltſam. Leontin ſtand ſtill dabey und betrachtete
ihn aufmerkſam, denn es war wirklich daſſelbe
Bild, das ihm mitten im bunten Leben oft ſo ſchau¬
rig begegnet. O, mein lieber Bruder, ſagte Frie¬
drich, ſo habe ich dich denn wirklich wieder! Ich
habe dich immer geliebt. Und als ich dann größer
wurde und die Welt immer kleiner und enger, und
alles ſo Wunderlos und zahm, wie oft hab' ich da
an dich zurückgedacht und mich nach deinem wunder¬
baren härteren Weſen geſehnt! — Rudolph ſchien
wenig auf dieſe Worte zu achten, ſondern wandte
ſich zu Leontinen um und ſagte: Wie geht es Euch,
mein Signor Amoroſo? Durch dieſen Wald geht
kein Weg zum Liebchen. — Und keiner in der Welt
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[409/0415] Wie dem Schweizer in der Fremde, wenn plötz¬ lich ein Alphorn ertönt, alle Berge und Thäler, die ihn von der Heimath ſcheiden, in dem Klange verſinken, und er ſieht die Gletſcher wieder und den alten, ſtillen Garten am Bergeshange und al¬ le die morgenfriſche Ausſicht in das Wunderreich der Kindheit, ſo fiel auch Friedrich'n bey dem Tone dieſer Stimme die mühſame Wand eines langen, verworrenen Lebens von der Seele nieder: — er erkannte ſeinen wilden Bruder Rudolph, der als Knabe fortgelaufen war, und von dem er ſeitdem nie wieder etwas gehört hatte. Keine ruhige, ſegensreiche Vergangenheit ſchien aus dieſen dunkelglühenden Blicken hervorzuſehen, eine Narbe über dem rechten Auge entſtellte ihn ſeltſam. Leontin ſtand ſtill dabey und betrachtete ihn aufmerkſam, denn es war wirklich daſſelbe Bild, das ihm mitten im bunten Leben oft ſo ſchau¬ rig begegnet. O, mein lieber Bruder, ſagte Frie¬ drich, ſo habe ich dich denn wirklich wieder! Ich habe dich immer geliebt. Und als ich dann größer wurde und die Welt immer kleiner und enger, und alles ſo Wunderlos und zahm, wie oft hab' ich da an dich zurückgedacht und mich nach deinem wunder¬ baren härteren Weſen geſehnt! — Rudolph ſchien wenig auf dieſe Worte zu achten, ſondern wandte ſich zu Leontinen um und ſagte: Wie geht es Euch, mein Signor Amoroſo? Durch dieſen Wald geht kein Weg zum Liebchen. — Und keiner in der Welt mehr, fiel ihm Leontin, der wohl wußte, was er

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/415>, abgerufen am 23.11.2024.