reise nicht wiedergesehen hatte. Sie aber wand die Hand los, legte den Finger geheimnißvoll auf den Mund und war so im Augenblicke zur Thür hinaus. Vergebens eilten und riefen sie ihr nach, sie war gleich einer Lazerte zwischen dem alten Gemäuer verschwunden.
Beyde hatte dieses unerwartete Begegniß sehr bewegt. Sie lehnten sich in das Fenster und sahen über die Wälder hinaus, die der Mond herrlich be¬ leuchtete. Leontin wurde immer stiller. Endlich sagte er: es ist doch seltsam, wie gegenwärtig mir hier eine Begebenheit wird, die mich einst heftig erschütterte; und ich täusche mich nicht, daß ich hier endlich eine Auflösung darüber erhalten werde. Frie¬ drich bat ihn, sie ihm mitzutheilen, und Leontin erzählte:
Ich hatte einst ein Liebchen hinter dem Walde bey meinem Schlosse, ein gutes, herziges, verlieb¬ tes Ding. Ich ritt gewöhnlich spät Abends zu ihr, und sie litt mich wohl manchmal über Nacht. Ei¬ nes Abends, da ich eben auch hinkomme, sieht sie ungewöhnlich blaß und ernsthaft und empfängt mich fast feyerlich, ohne mir wie sonst um den Hals zu fallen. Doch schien sie mehr traurig als schmollend. Wir giengen an dem Teiche spazieren, der bey ihrem Häuschen lag, wo sie mit ihrer Mutter ein¬ sam wohnte; da sagte sie mir: ich sey ja gestern Abends noch sehr spät bey ihr gewesen, und da sie mich küssen wollen, hätte ich sie ermahnt, lieber
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reiſe nicht wiedergeſehen hatte. Sie aber wand die Hand los, legte den Finger geheimnißvoll auf den Mund und war ſo im Augenblicke zur Thür hinaus. Vergebens eilten und riefen ſie ihr nach, ſie war gleich einer Lazerte zwiſchen dem alten Gemäuer verſchwunden.
Beyde hatte dieſes unerwartete Begegniß ſehr bewegt. Sie lehnten ſich in das Fenſter und ſahen über die Wälder hinaus, die der Mond herrlich be¬ leuchtete. Leontin wurde immer ſtiller. Endlich ſagte er: es iſt doch ſeltſam, wie gegenwärtig mir hier eine Begebenheit wird, die mich einſt heftig erſchütterte; und ich täuſche mich nicht, daß ich hier endlich eine Auflöſung darüber erhalten werde. Frie¬ drich bat ihn, ſie ihm mitzutheilen, und Leontin erzählte:
Ich hatte einſt ein Liebchen hinter dem Walde bey meinem Schloſſe, ein gutes, herziges, verlieb¬ tes Ding. Ich ritt gewöhnlich ſpät Abends zu ihr, und ſie litt mich wohl manchmal über Nacht. Ei¬ nes Abends, da ich eben auch hinkomme, ſieht ſie ungewöhnlich blaß und ernſthaft und empfängt mich faſt feyerlich, ohne mir wie ſonſt um den Hals zu fallen. Doch ſchien ſie mehr traurig als ſchmollend. Wir giengen an dem Teiche ſpazieren, der bey ihrem Häuschen lag, wo ſie mit ihrer Mutter ein¬ ſam wohnte; da ſagte ſie mir: ich ſey ja geſtern Abends noch ſehr ſpät bey ihr geweſen, und da ſie mich küſſen wollen, hätte ich ſie ermahnt, lieber
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reiſe nicht wiedergeſehen hatte. Sie aber wand die
Hand los, legte den Finger geheimnißvoll auf den
Mund und war ſo im Augenblicke zur Thür hinaus.
Vergebens eilten und riefen ſie ihr nach, ſie war
gleich einer Lazerte zwiſchen dem alten Gemäuer
verſchwunden.
Beyde hatte dieſes unerwartete Begegniß ſehr
bewegt. Sie lehnten ſich in das Fenſter und ſahen
über die Wälder hinaus, die der Mond herrlich be¬
leuchtete. Leontin wurde immer ſtiller. Endlich
ſagte er: es iſt doch ſeltſam, wie gegenwärtig mir
hier eine Begebenheit wird, die mich einſt heftig
erſchütterte; und ich täuſche mich nicht, daß ich hier
endlich eine Auflöſung darüber erhalten werde. Frie¬
drich bat ihn, ſie ihm mitzutheilen, und Leontin
erzählte:
Ich hatte einſt ein Liebchen hinter dem Walde
bey meinem Schloſſe, ein gutes, herziges, verlieb¬
tes Ding. Ich ritt gewöhnlich ſpät Abends zu ihr,
und ſie litt mich wohl manchmal über Nacht. Ei¬
nes Abends, da ich eben auch hinkomme, ſieht ſie
ungewöhnlich blaß und ernſthaft und empfängt mich
faſt feyerlich, ohne mir wie ſonſt um den Hals zu
fallen. Doch ſchien ſie mehr traurig als ſchmollend.
Wir giengen an dem Teiche ſpazieren, der bey
ihrem Häuschen lag, wo ſie mit ihrer Mutter ein¬
ſam wohnte; da ſagte ſie mir: ich ſey ja geſtern
Abends noch ſehr ſpät bey ihr geweſen, und da ſie
mich küſſen wollen, hätte ich ſie ermahnt, lieber
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/407>, abgerufen am 23.11.2024.
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