Es war inzwischen völlig Nacht geworden, als ich das Dorf erreichte. Ich mochte nach jener Nach¬ richt nun niemanden aus dem Hause sprechen noch sehen -- nur einen flüchtigen Streifzug durch den alten, schuldlosen Garten wollt' ich machen, und so¬ gleich wieder fort.
Ich band mein Pferd an einem Baume an und stieg übern Zaun in den Garten. Dort war jeder Gang, jede Bank, ja, jedes Blumenbeet noch immer auf dem alten Platze, so daß die See¬ le nach so viel inzwischen durchlebten Gedanken und Veränderungen diesen gemüthlichen Stillstand kaum fassen konnte. Der Sturm wüthete indeß noch im¬ mer heftig fort, und riß ein Heer von Wolken nebst vielen verspäteten Abendvögeln, die kreischend dazwischenruderten, in einer unabsehbaren Flucht über den Garten hinaus, während unten die Bäu¬ me sich neigten und einzelne Nachtigallentöne aus den Thälern durch den Wind heraufklagten; es war eine rechte dunkelschwüle Gespensternacht.
Ein ungewöhnlich starkes Licht, das aus dem einen Fenster in den Garten hinausschien, zog mich zum Schlosse hin. Ich stellte mich grade vor das Fenster und konnte das ganze Zimmer übersehen, das von einem Kaminfeuer so hell erleuchtet wurde. Der Herr v. A. saß in einem Lehnstuhle und las Zeitungen, Julie saß am Kamine und sang, hatte aber den Rücken gegen das Fenster gekehrt, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Was sie sang,
Es war inzwiſchen völlig Nacht geworden, als ich das Dorf erreichte. Ich mochte nach jener Nach¬ richt nun niemanden aus dem Hauſe ſprechen noch ſehen — nur einen flüchtigen Streifzug durch den alten, ſchuldloſen Garten wollt' ich machen, und ſo¬ gleich wieder fort.
Ich band mein Pferd an einem Baume an und ſtieg übern Zaun in den Garten. Dort war jeder Gang, jede Bank, ja, jedes Blumenbeet noch immer auf dem alten Platze, ſo daß die See¬ le nach ſo viel inzwiſchen durchlebten Gedanken und Veränderungen dieſen gemüthlichen Stillſtand kaum faſſen konnte. Der Sturm wüthete indeß noch im¬ mer heftig fort, und riß ein Heer von Wolken nebſt vielen verſpäteten Abendvögeln, die kreiſchend dazwiſchenruderten, in einer unabſehbaren Flucht über den Garten hinaus, während unten die Bäu¬ me ſich neigten und einzelne Nachtigallentöne aus den Thälern durch den Wind heraufklagten; es war eine rechte dunkelſchwüle Geſpenſternacht.
Ein ungewöhnlich ſtarkes Licht, das aus dem einen Fenſter in den Garten hinausſchien, zog mich zum Schloſſe hin. Ich ſtellte mich grade vor das Fenſter und konnte das ganze Zimmer überſehen, das von einem Kaminfeuer ſo hell erleuchtet wurde. Der Herr v. A. ſaß in einem Lehnſtuhle und las Zeitungen, Julie ſaß am Kamine und ſang, hatte aber den Rücken gegen das Fenſter gekehrt, ſo daß ich ihr Geſicht nicht ſehen konnte. Was ſie ſang,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0370"n="364"/><p>Es war inzwiſchen völlig Nacht geworden, als<lb/>
ich das Dorf erreichte. Ich mochte nach jener Nach¬<lb/>
richt nun niemanden aus dem Hauſe ſprechen noch<lb/>ſehen — nur einen flüchtigen Streifzug durch den<lb/>
alten, ſchuldloſen Garten wollt' ich machen, und ſo¬<lb/>
gleich wieder fort.</p><lb/><p>Ich band mein Pferd an einem Baume an<lb/>
und ſtieg übern Zaun in den Garten. Dort war<lb/>
jeder Gang, jede Bank, ja, jedes Blumenbeet<lb/>
noch immer auf dem alten Platze, ſo daß die See¬<lb/>
le nach ſo viel inzwiſchen durchlebten Gedanken und<lb/>
Veränderungen dieſen gemüthlichen Stillſtand kaum<lb/>
faſſen konnte. Der Sturm wüthete indeß noch im¬<lb/>
mer heftig fort, und riß ein Heer von Wolken<lb/>
nebſt vielen verſpäteten Abendvögeln, die kreiſchend<lb/>
dazwiſchenruderten, in einer unabſehbaren Flucht<lb/>
über den Garten hinaus, während unten die Bäu¬<lb/>
me ſich neigten und einzelne Nachtigallentöne aus<lb/>
den Thälern durch den Wind heraufklagten; es war<lb/>
eine rechte dunkelſchwüle Geſpenſternacht.</p><lb/><p>Ein ungewöhnlich ſtarkes Licht, das aus dem<lb/>
einen Fenſter in den Garten hinausſchien, zog mich<lb/>
zum Schloſſe hin. Ich ſtellte mich grade vor das<lb/>
Fenſter und konnte das ganze Zimmer überſehen,<lb/>
das von einem Kaminfeuer ſo hell erleuchtet wurde.<lb/>
Der Herr v. A. ſaß in einem Lehnſtuhle und las<lb/>
Zeitungen, Julie ſaß am Kamine und ſang, hatte<lb/>
aber den Rücken gegen das Fenſter gekehrt, ſo daß<lb/>
ich ihr Geſicht nicht ſehen konnte. Was ſie ſang,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[364/0370]
Es war inzwiſchen völlig Nacht geworden, als
ich das Dorf erreichte. Ich mochte nach jener Nach¬
richt nun niemanden aus dem Hauſe ſprechen noch
ſehen — nur einen flüchtigen Streifzug durch den
alten, ſchuldloſen Garten wollt' ich machen, und ſo¬
gleich wieder fort.
Ich band mein Pferd an einem Baume an
und ſtieg übern Zaun in den Garten. Dort war
jeder Gang, jede Bank, ja, jedes Blumenbeet
noch immer auf dem alten Platze, ſo daß die See¬
le nach ſo viel inzwiſchen durchlebten Gedanken und
Veränderungen dieſen gemüthlichen Stillſtand kaum
faſſen konnte. Der Sturm wüthete indeß noch im¬
mer heftig fort, und riß ein Heer von Wolken
nebſt vielen verſpäteten Abendvögeln, die kreiſchend
dazwiſchenruderten, in einer unabſehbaren Flucht
über den Garten hinaus, während unten die Bäu¬
me ſich neigten und einzelne Nachtigallentöne aus
den Thälern durch den Wind heraufklagten; es war
eine rechte dunkelſchwüle Geſpenſternacht.
Ein ungewöhnlich ſtarkes Licht, das aus dem
einen Fenſter in den Garten hinausſchien, zog mich
zum Schloſſe hin. Ich ſtellte mich grade vor das
Fenſter und konnte das ganze Zimmer überſehen,
das von einem Kaminfeuer ſo hell erleuchtet wurde.
Der Herr v. A. ſaß in einem Lehnſtuhle und las
Zeitungen, Julie ſaß am Kamine und ſang, hatte
aber den Rücken gegen das Fenſter gekehrt, ſo daß
ich ihr Geſicht nicht ſehen konnte. Was ſie ſang,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/370>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.