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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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und erschlaffte die warme Jahrszeit. Der eine
hatte eine schöne reiche Braut gefunden und rechne¬
te die gemeinsame Noth seiner Zeit gegen sein eig¬
nes einzelnes Glück zufrieden ab, seine Rolle war
ausgespielt. Andere fiengen an auf öffentlichen
Promenaden zu paradiren, zu spielen und zu lie¬
beln und wurden nach und nach kalt und beynahe
ganz Geistlos. Mehrere rief der Sommer in ihre
Heimath zurück. Aller Ernst war verwittert, und
Friedrich stand fast allein. Mehr jedoch als diese
Treulosigkeit Einzelner, auf die er doch nie gebaut,
kränkte ihn die allgemeine Willenlosigkeit, von
der er sich immer deutlicher überzeugen mußte. So
bemerkte er, unter vielen anderen Zeichen der Zeit,
oft an Einem Abend und in Einer Gesellschaft zwey
Arten von Religionsnarren. Die einen prahlten
da, daß sie das ganze Jahr nicht in die Kirche
giengen, verspotteten freygeisterisch alles Heilige und
hiengen auf alle Weise, die, Gott sey Dank, be¬
reits abgenutzte und schäbigte Paradedecke der Auf¬
klärung aus. Aber es war nicht wahr, denn sie
schlichen heimlich vor Tagesanbruch, wenn der Kü¬
ster aufschloß, zum Hinterpförtchen in die Kirchen
hinein und betheten fleissig. Die anderen fielen da¬
gegen gar waidlich über diese her, verfochten die
Religion und begeisterten sich durch ihre eignen
schönen Redensarten. Aber es war auch nicht
wahr, denn sie giengen in keine Kirche und glaub¬
ten heimlich selber nicht, was sie sagten. Das war
es, was Friedrich'n empörte, die überhandnehmen¬

und erſchlaffte die warme Jahrszeit. Der eine
hatte eine ſchöne reiche Braut gefunden und rechne¬
te die gemeinſame Noth ſeiner Zeit gegen ſein eig¬
nes einzelnes Glück zufrieden ab, ſeine Rolle war
ausgeſpielt. Andere fiengen an auf öffentlichen
Promenaden zu paradiren, zu ſpielen und zu lie¬
beln und wurden nach und nach kalt und beynahe
ganz Geiſtlos. Mehrere rief der Sommer in ihre
Heimath zurück. Aller Ernſt war verwittert, und
Friedrich ſtand faſt allein. Mehr jedoch als dieſe
Treuloſigkeit Einzelner, auf die er doch nie gebaut,
kränkte ihn die allgemeine Willenloſigkeit, von
der er ſich immer deutlicher überzeugen mußte. So
bemerkte er, unter vielen anderen Zeichen der Zeit,
oft an Einem Abend und in Einer Geſellſchaft zwey
Arten von Religionsnarren. Die einen prahlten
da, daß ſie das ganze Jahr nicht in die Kirche
giengen, verſpotteten freygeiſteriſch alles Heilige und
hiengen auf alle Weiſe, die, Gott ſey Dank, be¬
reits abgenutzte und ſchäbigte Paradedecke der Auf¬
klärung aus. Aber es war nicht wahr, denn ſie
ſchlichen heimlich vor Tagesanbruch, wenn der Kü¬
ſter aufſchloß, zum Hinterpförtchen in die Kirchen
hinein und betheten fleiſſig. Die anderen fielen da¬
gegen gar waidlich über dieſe her, verfochten die
Religion und begeiſterten ſich durch ihre eignen
ſchönen Redensarten. Aber es war auch nicht
wahr, denn ſie giengen in keine Kirche und glaub¬
ten heimlich ſelber nicht, was ſie ſagten. Das war
es, was Friedrich'n empörte, die überhandnehmen¬

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[295/0301] und erſchlaffte die warme Jahrszeit. Der eine hatte eine ſchöne reiche Braut gefunden und rechne¬ te die gemeinſame Noth ſeiner Zeit gegen ſein eig¬ nes einzelnes Glück zufrieden ab, ſeine Rolle war ausgeſpielt. Andere fiengen an auf öffentlichen Promenaden zu paradiren, zu ſpielen und zu lie¬ beln und wurden nach und nach kalt und beynahe ganz Geiſtlos. Mehrere rief der Sommer in ihre Heimath zurück. Aller Ernſt war verwittert, und Friedrich ſtand faſt allein. Mehr jedoch als dieſe Treuloſigkeit Einzelner, auf die er doch nie gebaut, kränkte ihn die allgemeine Willenloſigkeit, von der er ſich immer deutlicher überzeugen mußte. So bemerkte er, unter vielen anderen Zeichen der Zeit, oft an Einem Abend und in Einer Geſellſchaft zwey Arten von Religionsnarren. Die einen prahlten da, daß ſie das ganze Jahr nicht in die Kirche giengen, verſpotteten freygeiſteriſch alles Heilige und hiengen auf alle Weiſe, die, Gott ſey Dank, be¬ reits abgenutzte und ſchäbigte Paradedecke der Auf¬ klärung aus. Aber es war nicht wahr, denn ſie ſchlichen heimlich vor Tagesanbruch, wenn der Kü¬ ſter aufſchloß, zum Hinterpförtchen in die Kirchen hinein und betheten fleiſſig. Die anderen fielen da¬ gegen gar waidlich über dieſe her, verfochten die Religion und begeiſterten ſich durch ihre eignen ſchönen Redensarten. Aber es war auch nicht wahr, denn ſie giengen in keine Kirche und glaub¬ ten heimlich ſelber nicht, was ſie ſagten. Das war es, was Friedrich'n empörte, die überhandnehmen¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/301>, abgerufen am 23.11.2024.