alles sehr unordentlich durcheinander. Durch das Fenster, welches offen stand, hatte man über die Stadt weg eine entzückende Aussicht auf den weit¬ gewundenen Strom und die Gebirge. In der Stu¬ be fand ich auf einem Tische ein Buch aufgeschla¬ gen, es war die Dolores. Ich wollte die Kranke nicht wecken, setzte mich hin und fieng an in dem Buche zu lesen. Ich las und las, vieles Dunkle zog mich immer mehr an, vieles kam mir so wahr¬ haft vor wie meine verborgene innerste Meynung oder wie alte, lange wieder verlohrne und unter¬ gegangene Gedanken, und ich vertiefte mich immer mehr. Ich las bis es finster wurde. Die Sonne war draussen untergegangen und nur noch einzelne Scheine des Abendrothes fielen seltsam auf die Ge¬ mälde, die so still auf ihren Staffeleyen umherstan¬ den. Ich betrachtete sie aufmerksamer, es war als fiengen sie an lebendig zu werden, und mir kam in diesem Augenblick die Kunst, der unüberwindliche Hang und das Leben meines Sohnes begreiflich vor. Ich kann überhaupt nicht beschreiben, wie mir damals zu Muthe war; es war das erstemal in meinem Leben, daß ich die wunderbare Gewalt der Poesie im Innersten fühlte, und ich erschrack ordent¬ lich vor mir selber. -- Es wär mir unterdeß aufge¬ fallen, daß sich das Mädchen auf dem Bette noch immer nicht rühre, ich trat zu ihr, schüttelte sie und rief. Sie gab keine Antwort mehr, sie war todt. -- Ich hörte nachher, daß mein Sohn heute, so wie sie gestorben war, fortgereist sey, und alles in seiner Stube so steh'n gelassen habe.
alles ſehr unordentlich durcheinander. Durch das Fenſter, welches offen ſtand, hatte man über die Stadt weg eine entzückende Ausſicht auf den weit¬ gewundenen Strom und die Gebirge. In der Stu¬ be fand ich auf einem Tiſche ein Buch aufgeſchla¬ gen, es war die Dolores. Ich wollte die Kranke nicht wecken, ſetzte mich hin und fieng an in dem Buche zu leſen. Ich las und las, vieles Dunkle zog mich immer mehr an, vieles kam mir ſo wahr¬ haft vor wie meine verborgene innerſte Meynung oder wie alte, lange wieder verlohrne und unter¬ gegangene Gedanken, und ich vertiefte mich immer mehr. Ich las bis es finſter wurde. Die Sonne war drauſſen untergegangen und nur noch einzelne Scheine des Abendrothes fielen ſeltſam auf die Ge¬ mälde, die ſo ſtill auf ihren Staffeleyen umherſtan¬ den. Ich betrachtete ſie aufmerkſamer, es war als fiengen ſie an lebendig zu werden, und mir kam in dieſem Augenblick die Kunſt, der unüberwindliche Hang und das Leben meines Sohnes begreiflich vor. Ich kann überhaupt nicht beſchreiben, wie mir damals zu Muthe war; es war das erſtemal in meinem Leben, daß ich die wunderbare Gewalt der Poeſie im Innerſten fühlte, und ich erſchrack ordent¬ lich vor mir ſelber. — Es wär mir unterdeß aufge¬ fallen, daß ſich das Mädchen auf dem Bette noch immer nicht rühre, ich trat zu ihr, ſchüttelte ſie und rief. Sie gab keine Antwort mehr, ſie war todt. — Ich hörte nachher, daß mein Sohn heute, ſo wie ſie geſtorben war, fortgereist ſey, und alles in ſeiner Stube ſo ſteh'n gelaſſen habe.
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alles ſehr unordentlich durcheinander. Durch das
Fenſter, welches offen ſtand, hatte man über die
Stadt weg eine entzückende Ausſicht auf den weit¬
gewundenen Strom und die Gebirge. In der Stu¬
be fand ich auf einem Tiſche ein Buch aufgeſchla¬
gen, es war die Dolores. Ich wollte die Kranke
nicht wecken, ſetzte mich hin und fieng an in dem
Buche zu leſen. Ich las und las, vieles Dunkle
zog mich immer mehr an, vieles kam mir ſo wahr¬
haft vor wie meine verborgene innerſte Meynung
oder wie alte, lange wieder verlohrne und unter¬
gegangene Gedanken, und ich vertiefte mich immer
mehr. Ich las bis es finſter wurde. Die Sonne
war drauſſen untergegangen und nur noch einzelne
Scheine des Abendrothes fielen ſeltſam auf die Ge¬
mälde, die ſo ſtill auf ihren Staffeleyen umherſtan¬
den. Ich betrachtete ſie aufmerkſamer, es war als
fiengen ſie an lebendig zu werden, und mir kam in
dieſem Augenblick die Kunſt, der unüberwindliche
Hang und das Leben meines Sohnes begreiflich
vor. Ich kann überhaupt nicht beſchreiben, wie mir
damals zu Muthe war; es war das erſtemal in
meinem Leben, daß ich die wunderbare Gewalt der
Poeſie im Innerſten fühlte, und ich erſchrack ordent¬
lich vor mir ſelber. — Es wär mir unterdeß aufge¬
fallen, daß ſich das Mädchen auf dem Bette noch
immer nicht rühre, ich trat zu ihr, ſchüttelte ſie
und rief. Sie gab keine Antwort mehr, ſie war
todt. — Ich hörte nachher, daß mein Sohn heute,
ſo wie ſie geſtorben war, fortgereist ſey, und alles
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/227>, abgerufen am 24.11.2024.
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