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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Leontin sah sich, nun allein, nach allen Seiten
um. Alle Wälder und Berge lagen still und dun¬
kel ringsumher. Unten in der Tiefe schimmerten
Lichter hin und her aus den zerstreuten Dörfern,
Hunde bellten ferne in den einsamen Höfen. Auch
in dem Schlosse des Herrn v. A. sah er noch meh¬
rere Fenster erleuchtet. So blieb er noch lange oben
auf der Haide stehen.

Am folgenden Morgen frühzeitig erhielt Frie¬
drich einen Brief. Er erkannte sogleich die Züge
wieder: er war von Rosa. So lange schon hatte
er sich von Tag zu Tag vergebens darauf gefreut,
und erbrach ihn nun mit hastiger Ungeduld. Der
Brief war folgenden Inhalts:

Wo bleibst Du so lange, mein innig ge¬
liebter Freund? Hast Du denn gar kein Mit¬
leid mehr mit Deiner armen Rosa, die sich so
sehr nach Dir sehnt?

Als ich auf der Höhe im Gebirge von
Euch entführt wurde, hatte ich mir fest vorge¬
nommen, gleich nach meiner Ankunft in der
Residenz an Dich zu schreiben. Aber Du weißt
selbst, wieviel man die erste Zeit an einem sol¬
chen Orte mit Einrichtungen, Besuchen und
Gegenbesuchen zu thun hat. Ich konnte da¬
mals durchaus nicht dazu kommen, obschon ich
immer und überall an Dich gedacht habe. Und
so vergieng die erste Woche, und ich wußte
dann nicht mehr, wohin ich meinen Brief ad¬

Leontin ſah ſich, nun allein, nach allen Seiten
um. Alle Wälder und Berge lagen ſtill und dun¬
kel ringsumher. Unten in der Tiefe ſchimmerten
Lichter hin und her aus den zerſtreuten Dörfern,
Hunde bellten ferne in den einſamen Höfen. Auch
in dem Schloſſe des Herrn v. A. ſah er noch meh¬
rere Fenſter erleuchtet. So blieb er noch lange oben
auf der Haide ſtehen.

Am folgenden Morgen frühzeitig erhielt Frie¬
drich einen Brief. Er erkannte ſogleich die Züge
wieder: er war von Roſa. So lange ſchon hatte
er ſich von Tag zu Tag vergebens darauf gefreut,
und erbrach ihn nun mit haſtiger Ungeduld. Der
Brief war folgenden Inhalts:

Wo bleibſt Du ſo lange, mein innig ge¬
liebter Freund? Haſt Du denn gar kein Mit¬
leid mehr mit Deiner armen Roſa, die ſich ſo
ſehr nach Dir ſehnt?

Als ich auf der Höhe im Gebirge von
Euch entführt wurde, hatte ich mir feſt vorge¬
nommen, gleich nach meiner Ankunft in der
Reſidenz an Dich zu ſchreiben. Aber Du weißt
ſelbſt, wieviel man die erſte Zeit an einem ſol¬
chen Orte mit Einrichtungen, Beſuchen und
Gegenbeſuchen zu thun hat. Ich konnte da¬
mals durchaus nicht dazu kommen, obſchon ich
immer und überall an Dich gedacht habe. Und
ſo vergieng die erſte Woche, und ich wußte
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[162/0168] Leontin ſah ſich, nun allein, nach allen Seiten um. Alle Wälder und Berge lagen ſtill und dun¬ kel ringsumher. Unten in der Tiefe ſchimmerten Lichter hin und her aus den zerſtreuten Dörfern, Hunde bellten ferne in den einſamen Höfen. Auch in dem Schloſſe des Herrn v. A. ſah er noch meh¬ rere Fenſter erleuchtet. So blieb er noch lange oben auf der Haide ſtehen. Am folgenden Morgen frühzeitig erhielt Frie¬ drich einen Brief. Er erkannte ſogleich die Züge wieder: er war von Roſa. So lange ſchon hatte er ſich von Tag zu Tag vergebens darauf gefreut, und erbrach ihn nun mit haſtiger Ungeduld. Der Brief war folgenden Inhalts: Wo bleibſt Du ſo lange, mein innig ge¬ liebter Freund? Haſt Du denn gar kein Mit¬ leid mehr mit Deiner armen Roſa, die ſich ſo ſehr nach Dir ſehnt? Als ich auf der Höhe im Gebirge von Euch entführt wurde, hatte ich mir feſt vorge¬ nommen, gleich nach meiner Ankunft in der Reſidenz an Dich zu ſchreiben. Aber Du weißt ſelbſt, wieviel man die erſte Zeit an einem ſol¬ chen Orte mit Einrichtungen, Beſuchen und Gegenbeſuchen zu thun hat. Ich konnte da¬ mals durchaus nicht dazu kommen, obſchon ich immer und überall an Dich gedacht habe. Und ſo vergieng die erſte Woche, und ich wußte dann nicht mehr, wohin ich meinen Brief ad¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/168>, abgerufen am 23.11.2024.