Verständniß des Wunderbaren als des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Seit dieser Zeit schien Erwin innerlich stiller, ruhiger und selbst geselliger zu wer¬ den.
In Juliens Wesen war indeß, seit die Frem¬ den hier angekommen waren, eine unverkennbare Veränderung vorgegangen. Sie schien seitdem ge¬ wachsen und sichtbar schöner geworden zu seyn. Auch fieng sie an, sich mehrere Stunden des Tages auf ihrem Zimmer zu beschäftigen. Aus diesem Zimmer gieng eine Glasthüre auf den Garten hinaus; vor derselben standen auf einem Balkon eine Menge hoher, ausländischer Blumen, mitten in diesem Wunderreiche von Duft und Glanz saß ein bunter Papagey hinter goldenen Stäben. Hier befand sich Julie, wenn alles ausgegangen war, und las oder schrieb, während Erwin, draussen vor dem Balkon sitzend, auf der Guitarre spielte und sang. So fand sie Friedrich einmal, als er sie zu einem Spa¬ ziergange abholte, eben über einem Gemählde be¬ griffen. Es war, wie er mit dem ersten Blicke flüch¬ tig unterscheiden konnte, ein halbvollendetes Portrait eines jungen Mannes. Sie verdeckte es schnell, als er hereintrat, und sah ihn mit einem durchdringen¬ den, räthselhaften Blicke an. -- Sollte sie lieben? dachte Friedrich, und wußte nicht, was er davon halten sollte.
Verſtändniß des Wunderbaren als des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Seit dieſer Zeit ſchien Erwin innerlich ſtiller, ruhiger und ſelbſt geſelliger zu wer¬ den.
In Juliens Weſen war indeß, ſeit die Frem¬ den hier angekommen waren, eine unverkennbare Veränderung vorgegangen. Sie ſchien ſeitdem ge¬ wachſen und ſichtbar ſchöner geworden zu ſeyn. Auch fieng ſie an, ſich mehrere Stunden des Tages auf ihrem Zimmer zu beſchäftigen. Aus dieſem Zimmer gieng eine Glasthüre auf den Garten hinaus; vor derſelben ſtanden auf einem Balkon eine Menge hoher, ausländiſcher Blumen, mitten in dieſem Wunderreiche von Duft und Glanz ſaß ein bunter Papagey hinter goldenen Stäben. Hier befand ſich Julie, wenn alles ausgegangen war, und las oder ſchrieb, während Erwin, drauſſen vor dem Balkon ſitzend, auf der Guitarre ſpielte und ſang. So fand ſie Friedrich einmal, als er ſie zu einem Spa¬ ziergange abholte, eben über einem Gemählde be¬ griffen. Es war, wie er mit dem erſten Blicke flüch¬ tig unterſcheiden konnte, ein halbvollendetes Portrait eines jungen Mannes. Sie verdeckte es ſchnell, als er hereintrat, und ſah ihn mit einem durchdringen¬ den, räthſelhaften Blicke an. — Sollte ſie lieben? dachte Friedrich, und wußte nicht, was er davon halten ſollte.
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Verſtändniß des Wunderbaren als des Alltäglichen
und Gewöhnlichen. Seit dieſer Zeit ſchien Erwin
innerlich ſtiller, ruhiger und ſelbſt geſelliger zu wer¬
den.
In Juliens Weſen war indeß, ſeit die Frem¬
den hier angekommen waren, eine unverkennbare
Veränderung vorgegangen. Sie ſchien ſeitdem ge¬
wachſen und ſichtbar ſchöner geworden zu ſeyn. Auch
fieng ſie an, ſich mehrere Stunden des Tages auf
ihrem Zimmer zu beſchäftigen. Aus dieſem Zimmer
gieng eine Glasthüre auf den Garten hinaus; vor
derſelben ſtanden auf einem Balkon eine Menge
hoher, ausländiſcher Blumen, mitten in dieſem
Wunderreiche von Duft und Glanz ſaß ein bunter
Papagey hinter goldenen Stäben. Hier befand ſich
Julie, wenn alles ausgegangen war, und las oder
ſchrieb, während Erwin, drauſſen vor dem Balkon
ſitzend, auf der Guitarre ſpielte und ſang. So fand
ſie Friedrich einmal, als er ſie zu einem Spa¬
ziergange abholte, eben über einem Gemählde be¬
griffen. Es war, wie er mit dem erſten Blicke flüch¬
tig unterſcheiden konnte, ein halbvollendetes Portrait
eines jungen Mannes. Sie verdeckte es ſchnell, als
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den, räthſelhaften Blicke an. — Sollte ſie lieben?
dachte Friedrich, und wußte nicht, was er davon
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/124>, abgerufen am 27.11.2024.
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