Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

Laune überwältigte, sezte sich statt des Fräuleins
hin und sang sogleich aus dem Stegreif ein zärtli¬
ches Lied so übertrieben und süßlich, daß Frie¬
drich'n
fast übel wurde. Fräulein Julie sah ihn
groß an und war dann wahrend seines ganzen Ge¬
sanges in tiefe Gedanken versunken. -- Erst spät
begab man sich zur Ruhe.

Das Schlafzimmer der beyden Gäste war sehr
nett und sauber zubereitet, die Fenster giengen auf
den Garten hinaus. Eine geheimnißvolle Aussicht
eröffnete sich dort über den Garten weg in ein wei¬
tes Thal, das in stiller, nächtlicher Runde vor
ihnen lag. In einiger Ferne schien ein Strom zu
gehen, Nachtigallen schlugen überall aus den Thä¬
lern herauf. Das muß hier eine schöne Gegend
seyn, sagte Leontin, indem er sich zum Fenster hin¬
auslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Menschen
hier im Hause, entgegnete Friedrich. Wenn ich
in einen solchen abgeschlossenen Kreis von fremden
Menschen hineintrete, ist es mir immer, als sähe
ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites,
nächtliches Land. Da gehen stille breite Ströme,
und tausend verborgene Wunder liegen seltsam zer¬
streut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte,
glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hin¬
ein. Ich habe oft gewünscht, daß ich die meisten
Menschen niemals zum zweytenmale wiedersehen
und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich im¬
mer aufgeschrieben hätte, wie mir jeder zum ersten¬
male vorkam. -- Wahrhaftig, fiel ihm Leontin la¬

Laune überwältigte, ſezte ſich ſtatt des Fräuleins
hin und ſang ſogleich aus dem Stegreif ein zärtli¬
ches Lied ſo übertrieben und ſüßlich, daß Frie¬
drich'n
faſt übel wurde. Fräulein Julie ſah ihn
groß an und war dann wahrend ſeines ganzen Ge¬
ſanges in tiefe Gedanken verſunken. — Erſt ſpät
begab man ſich zur Ruhe.

Das Schlafzimmer der beyden Gäſte war ſehr
nett und ſauber zubereitet, die Fenſter giengen auf
den Garten hinaus. Eine geheimnißvolle Ausſicht
eröffnete ſich dort über den Garten weg in ein wei¬
tes Thal, das in ſtiller, nächtlicher Runde vor
ihnen lag. In einiger Ferne ſchien ein Strom zu
gehen, Nachtigallen ſchlugen überall aus den Thä¬
lern herauf. Das muß hier eine ſchöne Gegend
ſeyn, ſagte Leontin, indem er ſich zum Fenſter hin¬
auslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Menſchen
hier im Hauſe, entgegnete Friedrich. Wenn ich
in einen ſolchen abgeſchloſſenen Kreis von fremden
Menſchen hineintrete, iſt es mir immer, als ſähe
ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites,
nächtliches Land. Da gehen ſtille breite Ströme,
und tauſend verborgene Wunder liegen ſeltſam zer¬
ſtreut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte,
glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hin¬
ein. Ich habe oft gewünſcht, daß ich die meiſten
Menſchen niemals zum zweytenmale wiederſehen
und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich im¬
mer aufgeſchrieben hätte, wie mir jeder zum erſten¬
male vorkam. — Wahrhaftig, fiel ihm Leontin la¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0116" n="110"/>
Laune überwältigte, &#x017F;ezte &#x017F;ich &#x017F;tatt des Fräuleins<lb/>
hin und &#x017F;ang &#x017F;ogleich aus dem Stegreif ein zärtli¬<lb/>
ches Lied &#x017F;o übertrieben und &#x017F;üßlich, daß <hi rendition="#g">Frie¬<lb/>
drich'n</hi> fa&#x017F;t übel wurde. Fräulein Julie &#x017F;ah ihn<lb/>
groß an und war dann wahrend &#x017F;eines ganzen Ge¬<lb/>
&#x017F;anges in tiefe Gedanken ver&#x017F;unken. &#x2014; Er&#x017F;t &#x017F;pät<lb/>
begab man &#x017F;ich zur Ruhe.</p><lb/>
          <p>Das Schlafzimmer der beyden Gä&#x017F;te war &#x017F;ehr<lb/>
nett und &#x017F;auber zubereitet, die Fen&#x017F;ter giengen auf<lb/>
den Garten hinaus. Eine geheimnißvolle Aus&#x017F;icht<lb/>
eröffnete &#x017F;ich dort über den Garten weg in ein wei¬<lb/>
tes Thal, das in &#x017F;tiller, nächtlicher Runde vor<lb/>
ihnen lag. In einiger Ferne &#x017F;chien ein Strom zu<lb/>
gehen, Nachtigallen &#x017F;chlugen überall aus den Thä¬<lb/>
lern herauf. Das muß hier eine &#x017F;chöne Gegend<lb/>
&#x017F;eyn, &#x017F;agte Leontin, indem er &#x017F;ich zum Fen&#x017F;ter hin¬<lb/>
auslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Men&#x017F;chen<lb/>
hier im Hau&#x017F;e, entgegnete <hi rendition="#g">Friedrich</hi>. Wenn ich<lb/>
in einen &#x017F;olchen abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Kreis von fremden<lb/>
Men&#x017F;chen hineintrete, i&#x017F;t es mir immer, als &#x017F;ähe<lb/>
ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites,<lb/>
nächtliches Land. Da gehen &#x017F;tille breite Ströme,<lb/>
und tau&#x017F;end verborgene Wunder liegen &#x017F;elt&#x017F;am zer¬<lb/>
&#x017F;treut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte,<lb/>
glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hin¬<lb/>
ein. Ich habe oft gewün&#x017F;cht, daß ich die mei&#x017F;ten<lb/>
Men&#x017F;chen niemals zum zweytenmale wieder&#x017F;ehen<lb/>
und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich im¬<lb/>
mer aufge&#x017F;chrieben hätte, wie mir jeder zum er&#x017F;ten¬<lb/>
male vorkam. &#x2014; Wahrhaftig, fiel ihm Leontin la¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0116] Laune überwältigte, ſezte ſich ſtatt des Fräuleins hin und ſang ſogleich aus dem Stegreif ein zärtli¬ ches Lied ſo übertrieben und ſüßlich, daß Frie¬ drich'n faſt übel wurde. Fräulein Julie ſah ihn groß an und war dann wahrend ſeines ganzen Ge¬ ſanges in tiefe Gedanken verſunken. — Erſt ſpät begab man ſich zur Ruhe. Das Schlafzimmer der beyden Gäſte war ſehr nett und ſauber zubereitet, die Fenſter giengen auf den Garten hinaus. Eine geheimnißvolle Ausſicht eröffnete ſich dort über den Garten weg in ein wei¬ tes Thal, das in ſtiller, nächtlicher Runde vor ihnen lag. In einiger Ferne ſchien ein Strom zu gehen, Nachtigallen ſchlugen überall aus den Thä¬ lern herauf. Das muß hier eine ſchöne Gegend ſeyn, ſagte Leontin, indem er ſich zum Fenſter hin¬ auslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Menſchen hier im Hauſe, entgegnete Friedrich. Wenn ich in einen ſolchen abgeſchloſſenen Kreis von fremden Menſchen hineintrete, iſt es mir immer, als ſähe ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites, nächtliches Land. Da gehen ſtille breite Ströme, und tauſend verborgene Wunder liegen ſeltſam zer¬ ſtreut und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte, glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hin¬ ein. Ich habe oft gewünſcht, daß ich die meiſten Menſchen niemals zum zweytenmale wiederſehen und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich im¬ mer aufgeſchrieben hätte, wie mir jeder zum erſten¬ male vorkam. — Wahrhaftig, fiel ihm Leontin la¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/116
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/116>, abgerufen am 09.11.2024.