nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im ersten Jahre nach meiner Ankunft schwer krank waren und in Ihrem Phantasiren mit einemmale die schönsten Verse über den¬ selbigen Gegenstand recitirten. Es waren dieß ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend.
"Die Sache ist sehr wahrscheinlich, sagte Goethe. Es ist mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬ ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz unerwartet die schönsten griechischen Sentenzen recitirte. Man war vollkommen überzeugt, daß dieser Mann kein Wort griechisch verstehe, und schrie daher Wunder über Wunder; ja die Klugen singen schon an, aus dieser Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als man unglücklicherweise entdeckte, daß jener Alte in seiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei griechische Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man durch sein Beispiel anzuspornen trachtete. Er hatte je¬ nes wirklich classische Griechisch ganz maschinenmäßig gelernt, ohne es zu verstehen, und hatte seit fünfzig Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in sei¬ ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale wieder anfing sich zu regen und lebendig zu werden."
Goethe kam darauf mit derselbigen Malice und Ironie nochmals auf die enorme Besoldung der eng¬ lischen hohen Geistlichkeit zurück und erzählte sodann
nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im erſten Jahre nach meiner Ankunft ſchwer krank waren und in Ihrem Phantaſiren mit einemmale die ſchönſten Verſe über den¬ ſelbigen Gegenſtand recitirten. Es waren dieß ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend.
„Die Sache iſt ſehr wahrſcheinlich, ſagte Goethe. Es iſt mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬ ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz unerwartet die ſchönſten griechiſchen Sentenzen recitirte. Man war vollkommen überzeugt, daß dieſer Mann kein Wort griechiſch verſtehe, und ſchrie daher Wunder über Wunder; ja die Klugen ſingen ſchon an, aus dieſer Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als man unglücklicherweiſe entdeckte, daß jener Alte in ſeiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei griechiſche Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man durch ſein Beiſpiel anzuſpornen trachtete. Er hatte je¬ nes wirklich claſſiſche Griechiſch ganz maſchinenmäßig gelernt, ohne es zu verſtehen, und hatte ſeit fünfzig Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in ſei¬ ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale wieder anfing ſich zu regen und lebendig zu werden.“
Goethe kam darauf mit derſelbigen Malice und Ironie nochmals auf die enorme Beſoldung der eng¬ liſchen hohen Geiſtlichkeit zurück und erzählte ſodann
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0348"n="326"/>
nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im erſten Jahre<lb/>
nach meiner Ankunft ſchwer krank waren und in Ihrem<lb/>
Phantaſiren mit einemmale die ſchönſten Verſe über den¬<lb/>ſelbigen Gegenſtand recitirten. Es waren dieß ohne<lb/>
Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen<lb/>
Jugend.</p><lb/><p>„Die Sache iſt ſehr wahrſcheinlich, ſagte Goethe.<lb/>
Es iſt mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬<lb/>
ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz<lb/>
unerwartet die ſchönſten griechiſchen Sentenzen recitirte.<lb/>
Man war vollkommen überzeugt, daß dieſer Mann kein<lb/>
Wort griechiſch verſtehe, und ſchrie daher Wunder über<lb/>
Wunder; ja die Klugen ſingen ſchon an, aus dieſer<lb/>
Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als<lb/>
man unglücklicherweiſe entdeckte, daß jener Alte in<lb/>ſeiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei<lb/>
griechiſche Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in<lb/>
Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man<lb/>
durch ſein Beiſpiel anzuſpornen trachtete. Er hatte je¬<lb/>
nes wirklich claſſiſche Griechiſch ganz maſchinenmäßig<lb/>
gelernt, ohne es zu verſtehen, und hatte ſeit fünfzig<lb/>
Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in ſei¬<lb/>
ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale<lb/>
wieder anfing ſich zu regen und lebendig zu werden.“</p><lb/><p>Goethe kam darauf mit derſelbigen Malice und<lb/>
Ironie nochmals auf die enorme Beſoldung der eng¬<lb/>
liſchen hohen Geiſtlichkeit zurück und erzählte ſodann<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[326/0348]
nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im erſten Jahre
nach meiner Ankunft ſchwer krank waren und in Ihrem
Phantaſiren mit einemmale die ſchönſten Verſe über den¬
ſelbigen Gegenſtand recitirten. Es waren dieß ohne
Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen
Jugend.
„Die Sache iſt ſehr wahrſcheinlich, ſagte Goethe.
Es iſt mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann ge¬
ringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz
unerwartet die ſchönſten griechiſchen Sentenzen recitirte.
Man war vollkommen überzeugt, daß dieſer Mann kein
Wort griechiſch verſtehe, und ſchrie daher Wunder über
Wunder; ja die Klugen ſingen ſchon an, aus dieſer
Leichtgläubigkeit der Thoren Vortheil zu ziehen, als
man unglücklicherweiſe entdeckte, daß jener Alte in
ſeiner frühen Jugend war genöthigt worden allerlei
griechiſche Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in
Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man
durch ſein Beiſpiel anzuſpornen trachtete. Er hatte je¬
nes wirklich claſſiſche Griechiſch ganz maſchinenmäßig
gelernt, ohne es zu verſtehen, und hatte ſeit fünfzig
Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in ſei¬
ner letzten Krankheit jener Wortkram mit einemmale
wieder anfing ſich zu regen und lebendig zu werden.“
Goethe kam darauf mit derſelbigen Malice und
Ironie nochmals auf die enorme Beſoldung der eng¬
liſchen hohen Geiſtlichkeit zurück und erzählte ſodann
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/348>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.