überall den Stempel des Talentes trägt." Darauf, indem er den Band zwischen beide Hände nahm und ihn ein wenig von der Seite ansah, fügte er hinzu: "Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich sehe, daß dramatische Schriftsteller Stücke machen, die durch¬ aus zu lang sind, um so gegeben werden zu können, wie sie geschrieben. Diese Unvollkommenheit nimmt mir die Hälfte des Vergnügens, das ich sonst darüber empfinden würde. Sehen Sie nur, was Gemma von Art für ein dicker Band ist."
Schiller, erwiederte ich, hat es nicht viel besser ge¬ macht, und doch ist er ein sehr großer dramatischer Schriftsteller.
"Auch er hat freilich darin gefehlt, erwiederte Goethe. Besonders seine ersten Stücke, die er in der ganzen Fülle der Jugend schrieb, wollen gar kein Ende nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel zu sagen, als daß er es hätte beherrschen können. Später, als er sich dieses Fehlers bewußt war, gab er sich unendliche Mühe und suchte ihn durch Studium und Arbeit zu überwinden; aber es hat ihm damit nie recht gelingen wollen. Seinen Gegenstand gehörig be¬ herrschen und sich vom Leibe zu halten, und sich nur auf das durchaus Nothwendige zu concentriren, erfor¬ dert freilich die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer als man denkt."
Hofrath Riemer ließ sich melden und trat herein.
III. 21
überall den Stempel des Talentes trägt.“ Darauf, indem er den Band zwiſchen beide Hände nahm und ihn ein wenig von der Seite anſah, fügte er hinzu: „Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich ſehe, daß dramatiſche Schriftſteller Stücke machen, die durch¬ aus zu lang ſind, um ſo gegeben werden zu können, wie ſie geſchrieben. Dieſe Unvollkommenheit nimmt mir die Hälfte des Vergnügens, das ich ſonſt darüber empfinden würde. Sehen Sie nur, was Gemma von Art für ein dicker Band iſt.“
Schiller, erwiederte ich, hat es nicht viel beſſer ge¬ macht, und doch iſt er ein ſehr großer dramatiſcher Schriftſteller.
„Auch er hat freilich darin gefehlt, erwiederte Goethe. Beſonders ſeine erſten Stücke, die er in der ganzen Fülle der Jugend ſchrieb, wollen gar kein Ende nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel zu ſagen, als daß er es hätte beherrſchen können. Später, als er ſich dieſes Fehlers bewußt war, gab er ſich unendliche Mühe und ſuchte ihn durch Studium und Arbeit zu überwinden; aber es hat ihm damit nie recht gelingen wollen. Seinen Gegenſtand gehörig be¬ herrſchen und ſich vom Leibe zu halten, und ſich nur auf das durchaus Nothwendige zu concentriren, erfor¬ dert freilich die Kräfte eines poetiſchen Rieſen und iſt ſchwerer als man denkt.“
Hofrath Riemer ließ ſich melden und trat herein.
III. 21
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überall den Stempel des Talentes trägt.“ Darauf,
indem er den Band zwiſchen beide Hände nahm und
ihn ein wenig von der Seite anſah, fügte er hinzu:
„Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich ſehe,
daß dramatiſche Schriftſteller Stücke machen, die durch¬
aus zu lang ſind, um ſo gegeben werden zu können,
wie ſie geſchrieben. Dieſe Unvollkommenheit nimmt
mir die Hälfte des Vergnügens, das ich ſonſt darüber
empfinden würde. Sehen Sie nur, was Gemma von
Art für ein dicker Band iſt.“
Schiller, erwiederte ich, hat es nicht viel beſſer ge¬
macht, und doch iſt er ein ſehr großer dramatiſcher
Schriftſteller.
„Auch er hat freilich darin gefehlt, erwiederte
Goethe. Beſonders ſeine erſten Stücke, die er in der
ganzen Fülle der Jugend ſchrieb, wollen gar kein Ende
nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel
zu ſagen, als daß er es hätte beherrſchen können.
Später, als er ſich dieſes Fehlers bewußt war, gab er
ſich unendliche Mühe und ſuchte ihn durch Studium
und Arbeit zu überwinden; aber es hat ihm damit nie
recht gelingen wollen. Seinen Gegenſtand gehörig be¬
herrſchen und ſich vom Leibe zu halten, und ſich nur
auf das durchaus Nothwendige zu concentriren, erfor¬
dert freilich die Kräfte eines poetiſchen Rieſen und iſt
ſchwerer als man denkt.“
Hofrath Riemer ließ ſich melden und trat herein.
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/343>, abgerufen am 24.11.2024.
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