Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Volk im Umgange mit diesen anmuthigen Geistern ge¬
wöhnt und genöthigt wird, selbst edler und besser zu
denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt sich
überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?"

Er ist vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie
wissen selbst, wie sehr ich ihn seit Jahren liebe; auch
können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie so
über ihn reden zu hören. Soll ich aber sagen, welche
von seinen Liedern ich vorziehe, so gefallen mir denn
doch seine Liebesgedichte besser, als seine politischen,
bei denen mir ohnehin die speziellen Bezüge und An¬
spielungen nicht immer deutlich sind.

"Das ist Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch
sind die politischen gar nicht für Sie geschrieben; fra¬
gen Sie aber die Franzosen, und sie werden Ihnen
sagen, was daran Gutes ist. Ein politisches Gedicht
ist überhaupt im glücklichsten Falle immer nur als Or¬
gan einer einzelnen Nation, und in den meisten Fällen
nur als Organ einer gewissen Partei zu betrachten;
aber von dieser Nation und dieser Partei wird es auch,
wenn es gut ist, mit Enthusiasmus ergriffen werden.
Auch ist ein politisches Gedicht immer nur als Product
eines gewissen Zeitzustandes anzusehen; der aber freilich
vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen
Werth nimmt, den es vom Gegenstande hat. Beranger
hatte übrigens gut machen! Paris ist Frankreich. Alle
bedeutenden Interessen seines großen Vaterlandes con¬

Volk im Umgange mit dieſen anmuthigen Geiſtern ge¬
wöhnt und genöthigt wird, ſelbſt edler und beſſer zu
denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt ſich
überhaupt Beſſeres von einem Poeten rühmen?“

Er iſt vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie
wiſſen ſelbſt, wie ſehr ich ihn ſeit Jahren liebe; auch
können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie ſo
über ihn reden zu hören. Soll ich aber ſagen, welche
von ſeinen Liedern ich vorziehe, ſo gefallen mir denn
doch ſeine Liebesgedichte beſſer, als ſeine politiſchen,
bei denen mir ohnehin die ſpeziellen Bezüge und An¬
ſpielungen nicht immer deutlich ſind.

„Das iſt Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch
ſind die politiſchen gar nicht für Sie geſchrieben; fra¬
gen Sie aber die Franzoſen, und ſie werden Ihnen
ſagen, was daran Gutes iſt. Ein politiſches Gedicht
iſt überhaupt im glücklichſten Falle immer nur als Or¬
gan einer einzelnen Nation, und in den meiſten Fällen
nur als Organ einer gewiſſen Partei zu betrachten;
aber von dieſer Nation und dieſer Partei wird es auch,
wenn es gut iſt, mit Enthuſiasmus ergriffen werden.
Auch iſt ein politiſches Gedicht immer nur als Product
eines gewiſſen Zeitzuſtandes anzuſehen; der aber freilich
vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen
Werth nimmt, den es vom Gegenſtande hat. Béranger
hatte übrigens gut machen! Paris iſt Frankreich. Alle
bedeutenden Intereſſen ſeines großen Vaterlandes con¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0333" n="311"/>
Volk im Umgange mit die&#x017F;en anmuthigen Gei&#x017F;tern ge¬<lb/>
wöhnt und genöthigt wird, &#x017F;elb&#x017F;t edler und be&#x017F;&#x017F;er zu<lb/>
denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt &#x017F;ich<lb/>
überhaupt Be&#x017F;&#x017F;eres von einem Poeten rühmen?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Er i&#x017F;t vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t, wie &#x017F;ehr ich ihn &#x017F;eit Jahren liebe; auch<lb/>
können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie &#x017F;o<lb/>
über ihn reden zu hören. Soll ich aber &#x017F;agen, welche<lb/>
von &#x017F;einen Liedern ich vorziehe, &#x017F;o gefallen mir denn<lb/>
doch &#x017F;eine Liebesgedichte be&#x017F;&#x017F;er, als &#x017F;eine politi&#x017F;chen,<lb/>
bei denen mir ohnehin die &#x017F;peziellen Bezüge und An¬<lb/>
&#x017F;pielungen nicht immer deutlich &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das i&#x017F;t Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch<lb/>
&#x017F;ind die politi&#x017F;chen gar nicht für Sie ge&#x017F;chrieben; fra¬<lb/>
gen Sie aber die <hi rendition="#g">Franzo&#x017F;en</hi>, und &#x017F;ie werden Ihnen<lb/>
&#x017F;agen, was daran Gutes i&#x017F;t. Ein politi&#x017F;ches Gedicht<lb/>
i&#x017F;t überhaupt im glücklich&#x017F;ten Falle immer nur als Or¬<lb/>
gan einer einzelnen Nation, und in den mei&#x017F;ten Fällen<lb/>
nur als Organ einer gewi&#x017F;&#x017F;en Partei zu betrachten;<lb/>
aber von die&#x017F;er Nation und die&#x017F;er Partei wird es auch,<lb/>
wenn es gut i&#x017F;t, mit Enthu&#x017F;iasmus ergriffen werden.<lb/>
Auch i&#x017F;t ein politi&#x017F;ches Gedicht immer nur als Product<lb/>
eines gewi&#x017F;&#x017F;en Zeitzu&#x017F;tandes anzu&#x017F;ehen; der aber freilich<lb/>
vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen<lb/>
Werth nimmt, den es vom Gegen&#x017F;tande hat. B<hi rendition="#aq">é</hi>ranger<lb/>
hatte übrigens gut machen! Paris i&#x017F;t Frankreich. Alle<lb/>
bedeutenden Intere&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eines großen Vaterlandes con¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[311/0333] Volk im Umgange mit dieſen anmuthigen Geiſtern ge¬ wöhnt und genöthigt wird, ſelbſt edler und beſſer zu denken. Was wollen Sie mehr? und was läßt ſich überhaupt Beſſeres von einem Poeten rühmen?“ Er iſt vortrefflich! ohne Frage! erwiederte ich. Sie wiſſen ſelbſt, wie ſehr ich ihn ſeit Jahren liebe; auch können Sie denken, wie wohl es mir thut, Sie ſo über ihn reden zu hören. Soll ich aber ſagen, welche von ſeinen Liedern ich vorziehe, ſo gefallen mir denn doch ſeine Liebesgedichte beſſer, als ſeine politiſchen, bei denen mir ohnehin die ſpeziellen Bezüge und An¬ ſpielungen nicht immer deutlich ſind. „Das iſt Ihre Sache! erwiederte Goethe; auch ſind die politiſchen gar nicht für Sie geſchrieben; fra¬ gen Sie aber die Franzoſen, und ſie werden Ihnen ſagen, was daran Gutes iſt. Ein politiſches Gedicht iſt überhaupt im glücklichſten Falle immer nur als Or¬ gan einer einzelnen Nation, und in den meiſten Fällen nur als Organ einer gewiſſen Partei zu betrachten; aber von dieſer Nation und dieſer Partei wird es auch, wenn es gut iſt, mit Enthuſiasmus ergriffen werden. Auch iſt ein politiſches Gedicht immer nur als Product eines gewiſſen Zeitzuſtandes anzuſehen; der aber freilich vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen Werth nimmt, den es vom Gegenſtande hat. Béranger hatte übrigens gut machen! Paris iſt Frankreich. Alle bedeutenden Intereſſen ſeines großen Vaterlandes con¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/333
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/333>, abgerufen am 24.11.2024.