sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht seyn, so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief lie¬ genden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieses erst bemerkte, wenn Alles geschrieben war, oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere solcher in der Diagonale geschriebenen Blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, so daß es mir leid thut, keine Proben sol¬ cher poetischen Vertiefung mehr vorzeigen zu können."
Das Gespräch lenkte sich sodann auf die französische Literatur zurück, und zwar auf die allerneueste ultra¬ romantische Richtung einiger nicht unbedeutenden Ta¬ lente. Goethe war der Meinung, daß diese im Werden begriffene poetische Revolution der Literatur selber im hohen Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern aber, die sie bewirken, nachtheilig sey.
"Bei keiner Revolution, sagte er, sind die Extreme zu vermeiden. Bei der politischen will man anfänglich ge¬ wöhnlich nichts weiter als die Abstellung von allerlei Mißbräuchen; aber ehe man es sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Gräueln. So wollten auch die Franzosen bei ihrer jetzigen literarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter als eine freiere Form; aber dabei bleiben sie jetzt nicht stehen, sondern sie verwerfen
III. 20
ſondern ſie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht ſeyn, ſo daß ich ſie auf der Stelle inſtinktmäßig und traumartig niederzuſchreiben mich getrieben fühlte. In ſolchem nachtwandleriſchen Zuſtande geſchah es oft, daß ich einen ganz ſchief lie¬ genden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieſes erſt bemerkte, wenn Alles geſchrieben war, oder wenn ich zum Weiterſchreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere ſolcher in der Diagonale geſchriebenen Blätter beſeſſen; ſie ſind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, ſo daß es mir leid thut, keine Proben ſol¬ cher poetiſchen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.“
Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf die franzöſiſche Literatur zurück, und zwar auf die allerneueſte ultra¬ romantiſche Richtung einiger nicht unbedeutenden Ta¬ lente. Goethe war der Meinung, daß dieſe im Werden begriffene poetiſche Revolution der Literatur ſelber im hohen Grade günſtig, den einzelnen Schriftſtellern aber, die ſie bewirken, nachtheilig ſey.
„Bei keiner Revolution, ſagte er, ſind die Extreme zu vermeiden. Bei der politiſchen will man anfänglich ge¬ wöhnlich nichts weiter als die Abſtellung von allerlei Mißbräuchen; aber ehe man es ſich verſieht, ſteckt man tief in Blutvergießen und Gräueln. So wollten auch die Franzoſen bei ihrer jetzigen literariſchen Umwälzung anfänglich nichts weiter als eine freiere Form; aber dabei bleiben ſie jetzt nicht ſtehen, ſondern ſie verwerfen
III. 20
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ſondern ſie kamen plötzlich über mich und wollten
augenblicklich gemacht ſeyn, ſo daß ich ſie auf der
Stelle inſtinktmäßig und traumartig niederzuſchreiben
mich getrieben fühlte. In ſolchem nachtwandleriſchen
Zuſtande geſchah es oft, daß ich einen ganz ſchief lie¬
genden Papierbogen vor mir hatte, und daß ich dieſes
erſt bemerkte, wenn Alles geſchrieben war, oder wenn
ich zum Weiterſchreiben keinen Platz fand. Ich habe
mehrere ſolcher in der Diagonale geſchriebenen Blätter
beſeſſen; ſie ſind mir jedoch nach und nach abhanden
gekommen, ſo daß es mir leid thut, keine Proben ſol¬
cher poetiſchen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.“
Das Geſpräch lenkte ſich ſodann auf die franzöſiſche
Literatur zurück, und zwar auf die allerneueſte ultra¬
romantiſche Richtung einiger nicht unbedeutenden Ta¬
lente. Goethe war der Meinung, daß dieſe im Werden
begriffene poetiſche Revolution der Literatur ſelber im
hohen Grade günſtig, den einzelnen Schriftſtellern aber,
die ſie bewirken, nachtheilig ſey.
„Bei keiner Revolution, ſagte er, ſind die Extreme zu
vermeiden. Bei der politiſchen will man anfänglich ge¬
wöhnlich nichts weiter als die Abſtellung von allerlei
Mißbräuchen; aber ehe man es ſich verſieht, ſteckt man
tief in Blutvergießen und Gräueln. So wollten auch
die Franzoſen bei ihrer jetzigen literariſchen Umwälzung
anfänglich nichts weiter als eine freiere Form; aber
dabei bleiben ſie jetzt nicht ſtehen, ſondern ſie verwerfen
III. 20
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/327>, abgerufen am 24.11.2024.
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