lich; denn wenn Einer in seinem zwanzigsten Jahre nicht jung ist, wie soll er es in seinem vierzigsten seyn!"
Goethe seufzte und schwieg.
Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬ hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir die Sommerluft von Seesenheim vor die Seele und ich erinnerte ihn an die Verse:
Nachmittage saßen wir Junges Volk im Kühlen.
"Ach! seufzte Goethe, das waren freilich schöne Zeiten! -- Doch wir wollen sie uns aus dem Sinne schlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬ wart nicht ganz unerträglich werden."
"Es thäte Noth, sagte ich, daß ein zweiter Erlöser käme, um den Ernst, das Unbehagen und den ungeheu¬ ren Druck der jetzigen Zustände uns abzunehmen.
"Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs ein so Großes. Könnte man nur den Deutschen, nach dem Vorbilde der Engländer, weniger Philosophie und mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬ bringen, so würde uns schon ein gutes Stück Erlösung zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erscheinen der persönlichen Hoheit eines zweiten Christus zu warten brauchten. Sehr viel könnte geschehen von unten, vom Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, sehr viel von oben durch die Herrscher und ihre Nächsten."
lich; denn wenn Einer in ſeinem zwanzigſten Jahre nicht jung iſt, wie ſoll er es in ſeinem vierzigſten ſeyn!“
Goethe ſeufzte und ſchwieg.
Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬ hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir die Sommerluft von Seeſenheim vor die Seele und ich erinnerte ihn an die Verſe:
Nachmittage ſaßen wir Junges Volk im Kühlen.
„Ach! ſeufzte Goethe, das waren freilich ſchöne Zeiten! — Doch wir wollen ſie uns aus dem Sinne ſchlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬ wart nicht ganz unerträglich werden.“
„Es thäte Noth, ſagte ich, daß ein zweiter Erlöſer käme, um den Ernſt, das Unbehagen und den ungeheu¬ ren Druck der jetzigen Zuſtände uns abzunehmen.
„Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs ein ſo Großes. Könnte man nur den Deutſchen, nach dem Vorbilde der Engländer, weniger Philoſophie und mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬ bringen, ſo würde uns ſchon ein gutes Stück Erlöſung zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erſcheinen der perſönlichen Hoheit eines zweiten Chriſtus zu warten brauchten. Sehr viel könnte geſchehen von unten, vom Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, ſehr viel von oben durch die Herrſcher und ihre Nächſten.“
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0274"n="252"/>
lich; denn wenn Einer in ſeinem zwanzigſten Jahre nicht<lb/>
jung iſt, wie ſoll er es in ſeinem vierzigſten ſeyn!“</p><lb/><p>Goethe ſeufzte und ſchwieg.</p><lb/><p>Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬<lb/>
hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir<lb/>
die Sommerluft von Seeſenheim vor die Seele und<lb/>
ich erinnerte ihn an die Verſe:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Nachmittage ſaßen wir</l><lb/><l>Junges Volk im Kühlen.</l><lb/></lg><p>„Ach! ſeufzte Goethe, das waren freilich ſchöne<lb/>
Zeiten! — Doch wir wollen ſie uns aus dem Sinne<lb/>ſchlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬<lb/>
wart nicht ganz unerträglich werden.“</p><lb/><p>„Es thäte Noth, ſagte ich, daß ein zweiter Erlöſer<lb/>
käme, um den Ernſt, das Unbehagen und den ungeheu¬<lb/>
ren Druck der jetzigen Zuſtände uns abzunehmen.</p><lb/><p>„Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum<lb/>
zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs<lb/>
ein ſo Großes. Könnte man nur den Deutſchen, nach<lb/>
dem Vorbilde der Engländer, weniger Philoſophie und<lb/>
mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬<lb/>
bringen, ſo würde uns ſchon ein gutes Stück Erlöſung<lb/>
zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erſcheinen der<lb/>
perſönlichen Hoheit eines zweiten Chriſtus zu warten<lb/>
brauchten. Sehr viel könnte geſchehen von unten, vom<lb/>
Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, ſehr<lb/>
viel von oben durch die Herrſcher und ihre Nächſten.“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[252/0274]
lich; denn wenn Einer in ſeinem zwanzigſten Jahre nicht
jung iſt, wie ſoll er es in ſeinem vierzigſten ſeyn!“
Goethe ſeufzte und ſchwieg.
Ich dachte an die glückliche Zeit des vorigen Jahr¬
hunderts, in welche Goethe's Jugend fiel; es trat mir
die Sommerluft von Seeſenheim vor die Seele und
ich erinnerte ihn an die Verſe:
Nachmittage ſaßen wir
Junges Volk im Kühlen.
„Ach! ſeufzte Goethe, das waren freilich ſchöne
Zeiten! — Doch wir wollen ſie uns aus dem Sinne
ſchlagen, damit uns die grauen Nebeltage der Gegen¬
wart nicht ganz unerträglich werden.“
„Es thäte Noth, ſagte ich, daß ein zweiter Erlöſer
käme, um den Ernſt, das Unbehagen und den ungeheu¬
ren Druck der jetzigen Zuſtände uns abzunehmen.
„Käme er, antwortete Goethe, man würde ihn zum
zweitenmale kreuzigen. Doch wir brauchten keineswegs
ein ſo Großes. Könnte man nur den Deutſchen, nach
dem Vorbilde der Engländer, weniger Philoſophie und
mehr Thatkraft, weniger Theorie und mehr Praxis bei¬
bringen, ſo würde uns ſchon ein gutes Stück Erlöſung
zu Theil werden, ohne daß wir auf das Erſcheinen der
perſönlichen Hoheit eines zweiten Chriſtus zu warten
brauchten. Sehr viel könnte geſchehen von unten, vom
Volke, durch Schulen und häusliche Erziehung, ſehr
viel von oben durch die Herrſcher und ihre Nächſten.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/274>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.