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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch,
was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten
Fall eine geschriebene Seite; in der Regel aber nur so
viel, als man auf den Raum einer Handbreit schreiben
könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch
weniger."

Giebt es denn im Allgemeinen, sagte ich, kein
Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen,
oder, wenn sie nicht mächtig genug wäre, sie zu steigern?

"Um diesen Punkt, erwiederte Goethe, steht es gar
wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und
zu sagen."

"Jede Productivität höchster Art, jedes bedeu¬
tende Apercü, jede Erfindung, jeder große Gedanke der
Früchte bringt und Folge hat, steht in Niemandes
Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben.
Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke
von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die
er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren
hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das über¬
mächtig mit ihm thut wie es beliebt und dem er sich
bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handele
aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der
Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Welt¬
regierung zu betrachten, als ein würdig befundenes
Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses. --
Ich sage dieß, indem ich erwäge, wie oft ein einziger

Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch,
was iſt es, das ich ausführe! Im allerglücklichſten
Fall eine geſchriebene Seite; in der Regel aber nur ſo
viel, als man auf den Raum einer Handbreit ſchreiben
könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch
weniger.“

Giebt es denn im Allgemeinen, ſagte ich, kein
Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen,
oder, wenn ſie nicht mächtig genug wäre, ſie zu ſteigern?

„Um dieſen Punkt, erwiederte Goethe, ſteht es gar
wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und
zu ſagen.“

„Jede Productivität höchſter Art, jedes bedeu¬
tende Aperçü, jede Erfindung, jeder große Gedanke der
Früchte bringt und Folge hat, ſteht in Niemandes
Gewalt und iſt über aller irdiſchen Macht erhaben.
Dergleichen hat der Menſch als unverhoffte Geſchenke
von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die
er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren
hat. Es iſt dem Dämoniſchen verwandt, das über¬
mächtig mit ihm thut wie es beliebt und dem er ſich
bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handele
aus eigenem Antriebe. In ſolchen Fällen iſt der
Menſch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Welt¬
regierung zu betrachten, als ein würdig befundenes
Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einfluſſes. —
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[236/0258] Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was iſt es, das ich ausführe! Im allerglücklichſten Fall eine geſchriebene Seite; in der Regel aber nur ſo viel, als man auf den Raum einer Handbreit ſchreiben könnte, und oft, bei unproductiver Stimmung, noch weniger.“ Giebt es denn im Allgemeinen, ſagte ich, kein Mittel, um eine productive Stimmung hervorzubringen, oder, wenn ſie nicht mächtig genug wäre, ſie zu ſteigern? „Um dieſen Punkt, erwiederte Goethe, ſteht es gar wunderlich, und wäre darüber allerlei zu denken und zu ſagen.“ „Jede Productivität höchſter Art, jedes bedeu¬ tende Aperçü, jede Erfindung, jeder große Gedanke der Früchte bringt und Folge hat, ſteht in Niemandes Gewalt und iſt über aller irdiſchen Macht erhaben. Dergleichen hat der Menſch als unverhoffte Geſchenke von oben, als reine Kinder Gottes, zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es iſt dem Dämoniſchen verwandt, das über¬ mächtig mit ihm thut wie es beliebt und dem er ſich bewußtlos hingiebt, während er glaubt, er handele aus eigenem Antriebe. In ſolchen Fällen iſt der Menſch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Welt¬ regierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einfluſſes. — Ich ſage dieß, indem ich erwäge, wie oft ein einziger

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/258>, abgerufen am 22.11.2024.