Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte
ihn aber nicht dahin stellen. Er hat für die Lebens¬
art der Spechte so wenig den starken Schnabel, der
fähig wäre irgend eine abgestorbene Baumrinde zu
brechen, als die scharfen, sehr starken Schwanzfedern,
die geeignet wären ihn bei einer solchen Operation zu
stützen. Auch fehlen seinen Zehen die zum Anhalten
nöthigen scharfen Krallen, und ich halte daher seine
kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, sondern
nur für scheinbare.

"Die Herren Ornithologen, versetzte Goethe, sind
wahrscheinlich froh, wenn sie irgend einen eigenthüm¬
lichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht
haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt
und sich um die von beschränkten Menschen gemachten
Fächer wenig kümmert."

So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den
Grasmücken gezählt, während sie in der Energie ihres
Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise
weit mehr Aehnlichkeit mit den Drosseln hat. Aber auch
zu den Drosseln möchte ich sie nicht zählen. Sie ist
ein Vogel, der zwischen Beiden steht, ein Vogel für
sich, so wie auch der Kuckuck ein Vogel für sich ist, mit
so scharf ausgesprochener Individualität wie einer.

"Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, sagte
Goethe, giebt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein

III. 14

Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte
ihn aber nicht dahin ſtellen. Er hat für die Lebens¬
art der Spechte ſo wenig den ſtarken Schnabel, der
fähig wäre irgend eine abgeſtorbene Baumrinde zu
brechen, als die ſcharfen, ſehr ſtarken Schwanzfedern,
die geeignet wären ihn bei einer ſolchen Operation zu
ſtützen. Auch fehlen ſeinen Zehen die zum Anhalten
nöthigen ſcharfen Krallen, und ich halte daher ſeine
kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, ſondern
nur für ſcheinbare.

„Die Herren Ornithologen, verſetzte Goethe, ſind
wahrſcheinlich froh, wenn ſie irgend einen eigenthüm¬
lichen Vogel nur einigermaßen ſchicklich untergebracht
haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt
und ſich um die von beſchränkten Menſchen gemachten
Fächer wenig kümmert.“

So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den
Grasmücken gezählt, während ſie in der Energie ihres
Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweiſe
weit mehr Aehnlichkeit mit den Droſſeln hat. Aber auch
zu den Droſſeln möchte ich ſie nicht zählen. Sie iſt
ein Vogel, der zwiſchen Beiden ſteht, ein Vogel für
ſich, ſo wie auch der Kuckuck ein Vogel für ſich iſt, mit
ſo ſcharf ausgeſprochener Individualität wie einer.

„Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, ſagte
Goethe, giebt mir für dieſen merkwürdigen Vogel ein

III. 14
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0231" n="209"/>
Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte<lb/>
ihn aber nicht dahin &#x017F;tellen. Er hat für die Lebens¬<lb/>
art der Spechte &#x017F;o wenig den &#x017F;tarken Schnabel, der<lb/>
fähig wäre irgend eine abge&#x017F;torbene Baumrinde zu<lb/>
brechen, als die &#x017F;charfen, &#x017F;ehr &#x017F;tarken Schwanzfedern,<lb/>
die geeignet wären ihn bei einer &#x017F;olchen Operation zu<lb/>
&#x017F;tützen. Auch fehlen &#x017F;einen Zehen die zum Anhalten<lb/>
nöthigen &#x017F;charfen Krallen, und ich halte daher &#x017F;eine<lb/>
kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, &#x017F;ondern<lb/>
nur für &#x017F;cheinbare.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Herren Ornithologen, ver&#x017F;etzte Goethe, &#x017F;ind<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich froh, wenn &#x017F;ie irgend einen eigenthüm¬<lb/>
lichen Vogel nur einigermaßen &#x017F;chicklich untergebracht<lb/>
haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt<lb/>
und &#x017F;ich um die von be&#x017F;chränkten Men&#x017F;chen gemachten<lb/>
Fächer wenig kümmert.&#x201C;</p><lb/>
          <p>So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den<lb/>
Grasmücken gezählt, während &#x017F;ie in der Energie ihres<lb/>
Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebenswei&#x017F;e<lb/>
weit mehr Aehnlichkeit mit den Dro&#x017F;&#x017F;eln hat. Aber auch<lb/>
zu den Dro&#x017F;&#x017F;eln möchte ich &#x017F;ie nicht zählen. Sie i&#x017F;t<lb/>
ein Vogel, der zwi&#x017F;chen Beiden &#x017F;teht, ein Vogel für<lb/>
&#x017F;ich, &#x017F;o wie auch der Kuckuck ein Vogel für &#x017F;ich i&#x017F;t, mit<lb/>
&#x017F;o &#x017F;charf ausge&#x017F;prochener Individualität wie einer.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, &#x017F;agte<lb/>
Goethe, giebt mir für die&#x017F;en merkwürdigen Vogel ein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III</hi>. 14<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0231] Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte ihn aber nicht dahin ſtellen. Er hat für die Lebens¬ art der Spechte ſo wenig den ſtarken Schnabel, der fähig wäre irgend eine abgeſtorbene Baumrinde zu brechen, als die ſcharfen, ſehr ſtarken Schwanzfedern, die geeignet wären ihn bei einer ſolchen Operation zu ſtützen. Auch fehlen ſeinen Zehen die zum Anhalten nöthigen ſcharfen Krallen, und ich halte daher ſeine kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, ſondern nur für ſcheinbare. „Die Herren Ornithologen, verſetzte Goethe, ſind wahrſcheinlich froh, wenn ſie irgend einen eigenthüm¬ lichen Vogel nur einigermaßen ſchicklich untergebracht haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und ſich um die von beſchränkten Menſchen gemachten Fächer wenig kümmert.“ So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den Grasmücken gezählt, während ſie in der Energie ihres Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweiſe weit mehr Aehnlichkeit mit den Droſſeln hat. Aber auch zu den Droſſeln möchte ich ſie nicht zählen. Sie iſt ein Vogel, der zwiſchen Beiden ſteht, ein Vogel für ſich, ſo wie auch der Kuckuck ein Vogel für ſich iſt, mit ſo ſcharf ausgeſprochener Individualität wie einer. „Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, ſagte Goethe, giebt mir für dieſen merkwürdigen Vogel ein III. 14

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/231
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/231>, abgerufen am 22.11.2024.