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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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würde, so gut zu fliegen, als die Erreichung seines
Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen,
daß er z. B. mit einemmale die vierte, fünfte und
sechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte
und sechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert,
wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann,
allein nicht so gut, um dem verfolgenden Raubvogel,
besonders aber dem sehr schnellen und gewandten
Baumfalken, zu entgehen, und da kommt ihm denn ein
buschiges Dickicht sehr zu Statten.

"Das läßt sich hören, erwiederte Goethe. Schreitet
aber die Mauser, fuhr er fort, an beiden Flügeln
gleichmäßig und gewissermaßen symmetrisch vor?"

Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings,
erwiederte ich. Und das ist sehr wohlthätig. Denn
verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des lin¬
ken Flügels und nicht zugleich dieselben Federn des
rechten, so würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen
und der Vogel würde sich und seine Bewegung nicht
mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde seyn, wie
ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu
schwer und an der andern zu leicht sind.

"Ich sehe, erwiederte Goethe, man mag in die
Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man
kommt immer auf einige Weisheit."

Wir waren indeß immerfort mühsam bergan gefah¬
ren und waren nun nach und nach oben, am Rande

würde, ſo gut zu fliegen, als die Erreichung ſeines
Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen,
daß er z. B. mit einemmale die vierte, fünfte und
ſechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte
und ſechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert,
wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann,
allein nicht ſo gut, um dem verfolgenden Raubvogel,
beſonders aber dem ſehr ſchnellen und gewandten
Baumfalken, zu entgehen, und da kommt ihm denn ein
buſchiges Dickicht ſehr zu Statten.

„Das läßt ſich hören, erwiederte Goethe. Schreitet
aber die Mauſer, fuhr er fort, an beiden Flügeln
gleichmäßig und gewiſſermaßen ſymmetriſch vor?“

Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings,
erwiederte ich. Und das iſt ſehr wohlthätig. Denn
verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des lin¬
ken Flügels und nicht zugleich dieſelben Federn des
rechten, ſo würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen
und der Vogel würde ſich und ſeine Bewegung nicht
mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde ſeyn, wie
ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu
ſchwer und an der andern zu leicht ſind.

„Ich ſehe, erwiederte Goethe, man mag in die
Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man
kommt immer auf einige Weisheit.“

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ren und waren nun nach und nach oben, am Rande

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[185/0207] würde, ſo gut zu fliegen, als die Erreichung ſeines Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen, daß er z. B. mit einemmale die vierte, fünfte und ſechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte und ſechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert, wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann, allein nicht ſo gut, um dem verfolgenden Raubvogel, beſonders aber dem ſehr ſchnellen und gewandten Baumfalken, zu entgehen, und da kommt ihm denn ein buſchiges Dickicht ſehr zu Statten. „Das läßt ſich hören, erwiederte Goethe. Schreitet aber die Mauſer, fuhr er fort, an beiden Flügeln gleichmäßig und gewiſſermaßen ſymmetriſch vor?“ Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings, erwiederte ich. Und das iſt ſehr wohlthätig. Denn verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des lin¬ ken Flügels und nicht zugleich dieſelben Federn des rechten, ſo würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen und der Vogel würde ſich und ſeine Bewegung nicht mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde ſeyn, wie ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu ſchwer und an der andern zu leicht ſind. „Ich ſehe, erwiederte Goethe, man mag in die Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit.“ Wir waren indeß immerfort mühſam bergan gefah¬ ren und waren nun nach und nach oben, am Rande

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/207>, abgerufen am 24.11.2024.