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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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"Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur
so obenhin, so kommt uns Alles so natürlich vor, als
sey es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es
ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der
Natur gesehen worden, ebensowenig als eine Landschaft
von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr
natürlich erscheinet, die wir aber gleichfalls in der
Wirklichkeit vergebens suchen."

Ließen sich nicht auch, sagte ich, ähnliche kühne Züge
künstlerischer Fiction, wie dieses doppelte Licht von Ru¬
bens, in der Literatur finden?

"Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen, er¬
wiederte Goethe nach einigem Nachdenken. Ich könnte
sie Ihnen im Shakspeare zu Dutzenden nachweisen. --
Nehmen Sie nur den Macbeth. Als die Lady ihren
Gemahl zur That begeistern will, sagt sie:
Ich habe Kinder aufgesäugt etc.
Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf
an; aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um
ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. -- Im späte¬
ren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nach¬
richt von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er
im wilden Grimme aus:

Er hat keine Kinder!

Diese Worte des Macduff kommen also mit denen
der Lady in Widerspruch; aber das kümmert Shak¬
speare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedes¬

„Betrachten wir dieſe Landſchaft von Rubens nur
ſo obenhin, ſo kommt uns Alles ſo natürlich vor, als
ſey es nur geradezu von der Natur abgeſchrieben. Es
iſt aber nicht ſo. Ein ſo ſchönes Bild iſt nie in der
Natur geſehen worden, ebenſowenig als eine Landſchaft
von Pouſſin oder Claude Lorrain, die uns auch ſehr
natürlich erſcheinet, die wir aber gleichfalls in der
Wirklichkeit vergebens ſuchen.“

Ließen ſich nicht auch, ſagte ich, ähnliche kühne Züge
künſtleriſcher Fiction, wie dieſes doppelte Licht von Ru¬
bens, in der Literatur finden?

„Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen, er¬
wiederte Goethe nach einigem Nachdenken. Ich könnte
ſie Ihnen im Shakſpeare zu Dutzenden nachweiſen. —
Nehmen Sie nur den Macbeth. Als die Lady ihren
Gemahl zur That begeiſtern will, ſagt ſie:
Ich habe Kinder aufgeſäugt ꝛc.
Ob dieſes wahr iſt oder nicht, kommt gar nicht darauf
an; aber die Lady ſagt es, und ſie muß es ſagen, um
ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. — Im ſpäte¬
ren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nach¬
richt von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er
im wilden Grimme aus:

Er hat keine Kinder!

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[155/0177] „Betrachten wir dieſe Landſchaft von Rubens nur ſo obenhin, ſo kommt uns Alles ſo natürlich vor, als ſey es nur geradezu von der Natur abgeſchrieben. Es iſt aber nicht ſo. Ein ſo ſchönes Bild iſt nie in der Natur geſehen worden, ebenſowenig als eine Landſchaft von Pouſſin oder Claude Lorrain, die uns auch ſehr natürlich erſcheinet, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens ſuchen.“ Ließen ſich nicht auch, ſagte ich, ähnliche kühne Züge künſtleriſcher Fiction, wie dieſes doppelte Licht von Ru¬ bens, in der Literatur finden? „Da brauchten wir nicht eben weit zu gehen, er¬ wiederte Goethe nach einigem Nachdenken. Ich könnte ſie Ihnen im Shakſpeare zu Dutzenden nachweiſen. — Nehmen Sie nur den Macbeth. Als die Lady ihren Gemahl zur That begeiſtern will, ſagt ſie: Ich habe Kinder aufgeſäugt ꝛc. Ob dieſes wahr iſt oder nicht, kommt gar nicht darauf an; aber die Lady ſagt es, und ſie muß es ſagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. — Im ſpäte¬ ren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nach¬ richt von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus: Er hat keine Kinder! Dieſe Worte des Macduff kommen alſo mit denen der Lady in Widerſpruch; aber das kümmert Shak¬ ſpeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedes¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/177>, abgerufen am 25.11.2024.