schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?
"Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Thieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten, als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬ lichen Reitpferdes."
"Die Hauptsache ist immer, fuhr Goethe fort, daß die Race rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das Uebrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles die¬ ses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack ab¬ wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus der Philister ihre Stelle haben."
Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tisch noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüthen hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬ nungen eines genußreichen Sommers.
ſchön nennen, wie uns vorhin einige ſehr ſtarke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?
„Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht? Ein Maler fände an dem ſtark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines ſolchen Thieres wahrſcheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten, als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬ lichen Reitpferdes.“
„Die Hauptſache iſt immer, fuhr Goethe fort, daß die Raçe rein und der Menſch nicht ſeine verſtümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeſchnitten, ein Hund mit geſtutzten Ohren, ein Baum, dem man die mächtigſten Zweige genommen und das Uebrige kugelförmig geſchnitzelt hat, und über Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüſte verdorben und entſtellt worden, alles die¬ ſes ſind Dinge, von denen ſich der gute Geſchmack ab¬ wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus der Philiſter ihre Stelle haben.“
Unter dieſen und ähnlichen Geſprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tiſch noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war ſehr ſchön; die Frühlingsſonne fing an mächtig zu werden und an Büſchen und Hecken ſchon allerlei Laub und Blüthen hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬ nungen eines genußreichen Sommers.
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0172"n="150"/>ſchön nennen, wie uns vorhin einige ſehr ſtarke vor<lb/>
den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?</p><lb/><p>„Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht?<lb/>
Ein Maler fände an dem ſtark ausgeprägten Charakter,<lb/>
an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und<lb/>
Muskeln eines ſolchen Thieres wahrſcheinlich noch ein<lb/>
weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten,<lb/>
als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬<lb/>
lichen Reitpferdes.“</p><lb/><p>„Die Hauptſache iſt immer, fuhr Goethe fort, daß<lb/>
die Ra<hirendition="#aq">ç</hi>e rein und der Menſch nicht ſeine verſtümmelnde<lb/>
Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und<lb/>
Mähne abgeſchnitten, ein Hund mit geſtutzten Ohren,<lb/>
ein Baum, dem man die mächtigſten Zweige genommen<lb/>
und das Uebrige kugelförmig geſchnitzelt hat, und über<lb/>
Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch<lb/>
Schnürbrüſte verdorben und entſtellt worden, alles die¬<lb/>ſes ſind Dinge, von denen ſich der gute Geſchmack ab¬<lb/>
wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus<lb/>
der Philiſter ihre Stelle haben.“</p><lb/><p>Unter dieſen und ähnlichen Geſprächen waren wir<lb/>
wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tiſch noch einige<lb/>
Gänge im Hausgarten. Das Wetter war ſehr ſchön;<lb/>
die Frühlingsſonne fing an mächtig zu werden und an<lb/>
Büſchen und Hecken ſchon allerlei Laub und Blüthen<lb/>
hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬<lb/>
nungen eines genußreichen Sommers.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[150/0172]
ſchön nennen, wie uns vorhin einige ſehr ſtarke vor
den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?
„Allerdings! erwiederte Goethe; und warum nicht?
Ein Maler fände an dem ſtark ausgeprägten Charakter,
an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und
Muskeln eines ſolchen Thieres wahrſcheinlich noch ein
weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten,
als an dem milderen, egaleren Charakter eines zier¬
lichen Reitpferdes.“
„Die Hauptſache iſt immer, fuhr Goethe fort, daß
die Raçe rein und der Menſch nicht ſeine verſtümmelnde
Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und
Mähne abgeſchnitten, ein Hund mit geſtutzten Ohren,
ein Baum, dem man die mächtigſten Zweige genommen
und das Uebrige kugelförmig geſchnitzelt hat, und über
Alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch
Schnürbrüſte verdorben und entſtellt worden, alles die¬
ſes ſind Dinge, von denen ſich der gute Geſchmack ab¬
wendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus
der Philiſter ihre Stelle haben.“
Unter dieſen und ähnlichen Geſprächen waren wir
wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tiſch noch einige
Gänge im Hausgarten. Das Wetter war ſehr ſchön;
die Frühlingsſonne fing an mächtig zu werden und an
Büſchen und Hecken ſchon allerlei Laub und Blüthen
hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoff¬
nungen eines genußreichen Sommers.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/172>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.