in dem Zimmer ihrer älteren Schwester ein junger Mann gewesen."
"Nun hätte ein Anderer, der das Metier nicht so gut verstand, wie Moliere, die kleine Louison das Fac¬ tum sogleich ganz einfach erzählen lassen, und es wäre gethan gewesen."
"Was bringt aber Moliere durch allerlei retardirende Motive in diese Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louison zuerst thun läßt, als ver¬ stehe sie ihren Vater nicht; dann läugnet, daß sie etwas wisse; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingirten Ohnmacht wieder schelmisch-heiter auf¬ springt, und zuletzt nach und nach Alles gesteht."
"Diese meine Andeutung giebt Ihnen von dem Le¬ ben jenes Auftritts nur den allermagersten Begriff; aber lesen Sie die Scene selbst und durchdringen Sie sich von ihrem theatralischen Werthe, und Sie werden geste¬ hen, daß darin mehr praktische Lehre enthalten, als in sämmtlichen Theorieen."
"Ich kenne und liebe Moliere, fuhr Goethe fort, seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es ist nicht bloß das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern vorzüglich auch das liebenswürdige
in dem Zimmer ihrer älteren Schweſter ein junger Mann geweſen.“
„Nun hätte ein Anderer, der das Metier nicht ſo gut verſtand, wie Molière, die kleine Louiſon das Fac¬ tum ſogleich ganz einfach erzählen laſſen, und es wäre gethan geweſen.“
„Was bringt aber Molière durch allerlei retardirende Motive in dieſe Examination für Leben und Wirkung, indem er die kleine Louiſon zuerſt thun läßt, als ver¬ ſtehe ſie ihren Vater nicht; dann läugnet, daß ſie etwas wiſſe; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt; dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus ihrer fingirten Ohnmacht wieder ſchelmiſch-heiter auf¬ ſpringt, und zuletzt nach und nach Alles geſteht.“
„Dieſe meine Andeutung giebt Ihnen von dem Le¬ ben jenes Auftritts nur den allermagerſten Begriff; aber leſen Sie die Scene ſelbſt und durchdringen Sie ſich von ihrem theatraliſchen Werthe, und Sie werden geſte¬ hen, daß darin mehr praktiſche Lehre enthalten, als in ſämmtlichen Theorieen.“
„Ich kenne und liebe Molière, fuhr Goethe fort, ſeit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlaſſe nicht, jährlich von ihm einige Stücke zu leſen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es iſt nicht bloß das vollendete künſtleriſche Verfahren, was mich an ihm entzückt, ſondern vorzüglich auch das liebenswürdige
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in dem Zimmer ihrer älteren Schweſter ein junger
Mann geweſen.“
„Nun hätte ein Anderer, der das Metier nicht ſo
gut verſtand, wie Molière, die kleine Louiſon das Fac¬
tum ſogleich ganz einfach erzählen laſſen, und es wäre
gethan geweſen.“
„Was bringt aber Molière durch allerlei retardirende
Motive in dieſe Examination für Leben und Wirkung,
indem er die kleine Louiſon zuerſt thun läßt, als ver¬
ſtehe ſie ihren Vater nicht; dann läugnet, daß ſie etwas
wiſſe; dann, von der Ruthe bedroht, wie todt hinfällt;
dann, als der Vater in Verzweiflung ausbricht, aus
ihrer fingirten Ohnmacht wieder ſchelmiſch-heiter auf¬
ſpringt, und zuletzt nach und nach Alles geſteht.“
„Dieſe meine Andeutung giebt Ihnen von dem Le¬
ben jenes Auftritts nur den allermagerſten Begriff; aber
leſen Sie die Scene ſelbſt und durchdringen Sie ſich
von ihrem theatraliſchen Werthe, und Sie werden geſte¬
hen, daß darin mehr praktiſche Lehre enthalten, als in
ſämmtlichen Theorieen.“
„Ich kenne und liebe Molière, fuhr Goethe fort,
ſeit meiner Jugend und habe während meines ganzen
Lebens von ihm gelernt. Ich unterlaſſe nicht, jährlich
von ihm einige Stücke zu leſen, um mich immer im
Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es iſt nicht
bloß das vollendete künſtleriſche Verfahren, was mich an
ihm entzückt, ſondern vorzüglich auch das liebenswürdige
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/155>, abgerufen am 24.11.2024.
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