daß eine Kunst durch irgend einen einzelnen Mann in Verfall gerathen könne. Es muß dabei sehr Vieles zusammenwirken, was aber nicht so leicht zu sagen. Die tragische Kunst der Griechen konnte sowenig durch Euripides in Verfall gerathen, als die bildende Kunst durch irgend einen großen Bildhauer, der neben Phidias lebte, aber geringer war. Denn die Zeit, wenn sie groß ist, geht auf dem Wege des Besseren fort und das Geringere bleibt ohne Folge."
"Was war aber die Zeit des Euripides für eine große Zeit! Es war nicht die Zeit eines rückschreitenden, sondern die Zeit eines vorschreitenden Geschmackes. Die Bildhauerei hatte ihren höchsten Gipfel noch nicht erreicht und die Malerei war noch im früheren Wer¬ den."
"Hatten die Stücke des Euripides, gegen die des So¬ phokles gehalten, große Fehler, so war damit nicht gesagt, daß die nachkommenden Dichter diese Fehler nachahmen und an diesen Fehlern zu Grunde gehen mußten. Hat¬ ten sie aber große Tugenden, so daß man einige sogar den Stücken des Sophokles vorziehen mochte, warum strebten denn die nachkommenden Dichter nicht diesen Tugenden nach und warum wurden sie denn nicht we¬ nigstens so groß als Euripides selber! --"
"Erschien aber nach den bekannten drei großen Tragikern dennoch kein ebenso großer vierter, fünfter und sechster, so ist das freilich eine Sache, die nicht
daß eine Kunſt durch irgend einen einzelnen Mann in Verfall gerathen könne. Es muß dabei ſehr Vieles zuſammenwirken, was aber nicht ſo leicht zu ſagen. Die tragiſche Kunſt der Griechen konnte ſowenig durch Euripides in Verfall gerathen, als die bildende Kunſt durch irgend einen großen Bildhauer, der neben Phidias lebte, aber geringer war. Denn die Zeit, wenn ſie groß iſt, geht auf dem Wege des Beſſeren fort und das Geringere bleibt ohne Folge.“
„Was war aber die Zeit des Euripides für eine große Zeit! Es war nicht die Zeit eines rückſchreitenden, ſondern die Zeit eines vorſchreitenden Geſchmackes. Die Bildhauerei hatte ihren höchſten Gipfel noch nicht erreicht und die Malerei war noch im früheren Wer¬ den.“
„Hatten die Stücke des Euripides, gegen die des So¬ phokles gehalten, große Fehler, ſo war damit nicht geſagt, daß die nachkommenden Dichter dieſe Fehler nachahmen und an dieſen Fehlern zu Grunde gehen mußten. Hat¬ ten ſie aber große Tugenden, ſo daß man einige ſogar den Stücken des Sophokles vorziehen mochte, warum ſtrebten denn die nachkommenden Dichter nicht dieſen Tugenden nach und warum wurden ſie denn nicht we¬ nigſtens ſo groß als Euripides ſelber! —“
„Erſchien aber nach den bekannten drei großen Tragikern dennoch kein ebenſo großer vierter, fünfter und ſechſter, ſo iſt das freilich eine Sache, die nicht
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daß eine Kunſt durch irgend einen einzelnen Mann in
Verfall gerathen könne. Es muß dabei ſehr Vieles
zuſammenwirken, was aber nicht ſo leicht zu ſagen.
Die tragiſche Kunſt der Griechen konnte ſowenig durch
Euripides in Verfall gerathen, als die bildende Kunſt
durch irgend einen großen Bildhauer, der neben Phidias
lebte, aber geringer war. Denn die Zeit, wenn ſie
groß iſt, geht auf dem Wege des Beſſeren fort und das
Geringere bleibt ohne Folge.“
„Was war aber die Zeit des Euripides für eine
große Zeit! Es war nicht die Zeit eines rückſchreitenden,
ſondern die Zeit eines vorſchreitenden Geſchmackes.
Die Bildhauerei hatte ihren höchſten Gipfel noch nicht
erreicht und die Malerei war noch im früheren Wer¬
den.“
„Hatten die Stücke des Euripides, gegen die des So¬
phokles gehalten, große Fehler, ſo war damit nicht geſagt,
daß die nachkommenden Dichter dieſe Fehler nachahmen
und an dieſen Fehlern zu Grunde gehen mußten. Hat¬
ten ſie aber große Tugenden, ſo daß man einige ſogar
den Stücken des Sophokles vorziehen mochte, warum
ſtrebten denn die nachkommenden Dichter nicht dieſen
Tugenden nach und warum wurden ſie denn nicht we¬
nigſtens ſo groß als Euripides ſelber! —“
„Erſchien aber nach den bekannten drei großen
Tragikern dennoch kein ebenſo großer vierter, fünfter
und ſechſter, ſo iſt das freilich eine Sache, die nicht
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/132>, abgerufen am 24.11.2024.
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