überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War es aber ein junger Mensch, der zuvor noch keine Bühne betreten, so sah ich zunächst auf seine Persönlichkeit, ob ihm etwas für sich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne, und vor allen Dingen, ob er sich in der Gewalt habe. Denn ein Schauspieler, der keine Selbstbeherrschung besitzt und sich einem Fremden gegenüber nicht so zeigen kann, wie er es für sich am günstigsten hält, hat über¬ haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja ein fortwährendes Verläugnen seiner selbst und ein fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden Maske! --"
"Wenn mir nun sein Aeußeres und sein Benehmen gefiel, so ließ ich ihn lesen, um sowohl die Kraft und den Umfang seines Organs, als auch die Fähigkeiten seiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬ nes eines großen Dichters, um zu sehen, ob er das wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig; dann etwas Leidenschaftliches, Wildes, um seine Kraft zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬ ständigem, Geistreichen, Ironischen, Witzigen über, um zu sehen, wie er sich bei solchen Dingen benehme und ob er hinlängliche Freiheit des Geistes besitze. Dann gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬ ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargestellt war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des Rührenden in seiner Gewalt habe."
überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War es aber ein junger Menſch, der zuvor noch keine Bühne betreten, ſo ſah ich zunächſt auf ſeine Perſönlichkeit, ob ihm etwas für ſich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne, und vor allen Dingen, ob er ſich in der Gewalt habe. Denn ein Schauſpieler, der keine Selbſtbeherrſchung beſitzt und ſich einem Fremden gegenüber nicht ſo zeigen kann, wie er es für ſich am günſtigſten hält, hat über¬ haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja ein fortwährendes Verläugnen ſeiner ſelbſt und ein fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden Maske! —“
„Wenn mir nun ſein Aeußeres und ſein Benehmen gefiel, ſo ließ ich ihn leſen, um ſowohl die Kraft und den Umfang ſeines Organs, als auch die Fähigkeiten ſeiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬ nes eines großen Dichters, um zu ſehen, ob er das wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig; dann etwas Leidenſchaftliches, Wildes, um ſeine Kraft zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬ ſtändigem, Geiſtreichen, Ironiſchen, Witzigen über, um zu ſehen, wie er ſich bei ſolchen Dingen benehme und ob er hinlängliche Freiheit des Geiſtes beſitze. Dann gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬ ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargeſtellt war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des Rührenden in ſeiner Gewalt habe.“
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0102"n="80"/>
überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War<lb/>
es aber ein junger Menſch, der zuvor noch keine Bühne<lb/>
betreten, ſo ſah ich zunächſt auf ſeine Perſönlichkeit, ob<lb/>
ihm etwas für ſich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne,<lb/>
und vor allen Dingen, ob er ſich in der Gewalt habe.<lb/>
Denn ein Schauſpieler, der keine Selbſtbeherrſchung<lb/>
beſitzt und ſich einem Fremden gegenüber nicht ſo zeigen<lb/>
kann, wie er es für ſich am günſtigſten hält, hat über¬<lb/>
haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja<lb/>
ein fortwährendes Verläugnen ſeiner ſelbſt und ein<lb/>
fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden<lb/>
Maske! —“</p><lb/><p>„Wenn mir nun ſein Aeußeres und ſein Benehmen<lb/>
gefiel, ſo ließ ich ihn leſen, um ſowohl die Kraft und<lb/>
den Umfang ſeines Organs, als auch die Fähigkeiten<lb/>ſeiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬<lb/>
nes eines großen Dichters, um zu ſehen, ob er das<lb/>
wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig;<lb/>
dann etwas Leidenſchaftliches, Wildes, um ſeine Kraft<lb/>
zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬<lb/>ſtändigem, Geiſtreichen, Ironiſchen, Witzigen über, um<lb/>
zu ſehen, wie er ſich bei ſolchen Dingen benehme und<lb/>
ob er hinlängliche Freiheit des Geiſtes beſitze. Dann<lb/>
gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬<lb/>
ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargeſtellt<lb/>
war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des<lb/>
Rührenden in ſeiner Gewalt habe.“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[80/0102]
überhaupt bei uns eine Lücke ausgefüllt werde. War
es aber ein junger Menſch, der zuvor noch keine Bühne
betreten, ſo ſah ich zunächſt auf ſeine Perſönlichkeit, ob
ihm etwas für ſich Einnehmendes, Anziehendes, inwohne,
und vor allen Dingen, ob er ſich in der Gewalt habe.
Denn ein Schauſpieler, der keine Selbſtbeherrſchung
beſitzt und ſich einem Fremden gegenüber nicht ſo zeigen
kann, wie er es für ſich am günſtigſten hält, hat über¬
haupt wenig Talent. Sein ganzes Metier verlangt ja
ein fortwährendes Verläugnen ſeiner ſelbſt und ein
fortwährendes Eingehen und Leben in einer fremden
Maske! —“
„Wenn mir nun ſein Aeußeres und ſein Benehmen
gefiel, ſo ließ ich ihn leſen, um ſowohl die Kraft und
den Umfang ſeines Organs, als auch die Fähigkeiten
ſeiner Seele zu erfahren. Ich gab ihm etwas Erhabe¬
nes eines großen Dichters, um zu ſehen, ob er das
wirklich Große zu empfinden und auszudrücken fähig;
dann etwas Leidenſchaftliches, Wildes, um ſeine Kraft
zu prüfen. Dann ging ich wohl zu etwas klar Ver¬
ſtändigem, Geiſtreichen, Ironiſchen, Witzigen über, um
zu ſehen, wie er ſich bei ſolchen Dingen benehme und
ob er hinlängliche Freiheit des Geiſtes beſitze. Dann
gab ich ihm etwas, worin der Schmerz eines verwunde¬
ten Herzens, das Leiden einer großen Seele dargeſtellt
war, damit ich erführe, ob er auch den Ausdruck des
Rührenden in ſeiner Gewalt habe.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/102>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.