Auge wird von keiner von der Sonne beschienenen Schneefläche berührt, wodurch jener Gegensatz hervorge¬ rufen werden könnte; ich sehe nichts als die schattige blaue Masse. Um aber durchaus sicher zu gehen und zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbar¬ ten Dächer nicht etwa mein Auge berühre, rollte ich einen Bogen Papier zusammen, und blickte durch solche Röhre auf die schattige Fläche, wo denn das Blau un¬ verändert zu sehen blieb.
Daß dieser blaue Schatten also nichts Subjectives seyn konnte, darüber blieb mir nun weiter kein Zweifel. Die Farbe stand da, außer mir, selbstständig, mein Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war es? und da sie nun einmal da war, wodurch konnte sie entstehen?
Ich blickte noch einmal hin und umher, und siehe! die Auflösung des Räthsels kündigte sich mir an. Was kann es seyn, sagte ich zu mir selber, als der Wieder¬ schein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt, und der Neigung hat, im Schatten sich anzusiedeln? Denn es steht geschrieben: die Farbe ist dem Schatten verwandt, sie verbindet sich gerne mit ihm, und erscheint uns gerne in ihm und durch ihn, sobald der Anlaß nur gegeben ist.
Die folgenden Tage gewährten Gelegenheit, meine Hypothese wahr zu machen. Ich ging in den Feldern, es war kein blauer Himmel, die Sonne schien durch
Auge wird von keiner von der Sonne beſchienenen Schneeflaͤche beruͤhrt, wodurch jener Gegenſatz hervorge¬ rufen werden koͤnnte; ich ſehe nichts als die ſchattige blaue Maſſe. Um aber durchaus ſicher zu gehen und zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbar¬ ten Daͤcher nicht etwa mein Auge beruͤhre, rollte ich einen Bogen Papier zuſammen, und blickte durch ſolche Roͤhre auf die ſchattige Flaͤche, wo denn das Blau un¬ veraͤndert zu ſehen blieb.
Daß dieſer blaue Schatten alſo nichts Subjectives ſeyn konnte, daruͤber blieb mir nun weiter kein Zweifel. Die Farbe ſtand da, außer mir, ſelbſtſtaͤndig, mein Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war es? und da ſie nun einmal da war, wodurch konnte ſie entſtehen?
Ich blickte noch einmal hin und umher, und ſiehe! die Aufloͤſung des Raͤthſels kuͤndigte ſich mir an. Was kann es ſeyn, ſagte ich zu mir ſelber, als der Wieder¬ ſchein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt, und der Neigung hat, im Schatten ſich anzuſiedeln? Denn es ſteht geſchrieben: die Farbe iſt dem Schatten verwandt, ſie verbindet ſich gerne mit ihm, und erſcheint uns gerne in ihm und durch ihn, ſobald der Anlaß nur gegeben iſt.
Die folgenden Tage gewaͤhrten Gelegenheit, meine Hypotheſe wahr zu machen. Ich ging in den Feldern, es war kein blauer Himmel, die Sonne ſchien durch
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Auge wird von keiner von der Sonne beſchienenen
Schneeflaͤche beruͤhrt, wodurch jener Gegenſatz hervorge¬
rufen werden koͤnnte; ich ſehe nichts als die ſchattige
blaue Maſſe. Um aber durchaus ſicher zu gehen und
zu verhindern, daß der blendende Schein der benachbar¬
ten Daͤcher nicht etwa mein Auge beruͤhre, rollte ich
einen Bogen Papier zuſammen, und blickte durch ſolche
Roͤhre auf die ſchattige Flaͤche, wo denn das Blau un¬
veraͤndert zu ſehen blieb.
Daß dieſer blaue Schatten alſo nichts Subjectives
ſeyn konnte, daruͤber blieb mir nun weiter kein Zweifel.
Die Farbe ſtand da, außer mir, ſelbſtſtaͤndig, mein
Subject hatte darauf keinen Einfluß. Was aber war
es? und da ſie nun einmal da war, wodurch konnte ſie
entſtehen?
Ich blickte noch einmal hin und umher, und ſiehe!
die Aufloͤſung des Raͤthſels kuͤndigte ſich mir an. Was
kann es ſeyn, ſagte ich zu mir ſelber, als der Wieder¬
ſchein des blauen Himmels, den der Schatten herablockt,
und der Neigung hat, im Schatten ſich anzuſiedeln?
Denn es ſteht geſchrieben: die Farbe iſt dem Schatten
verwandt, ſie verbindet ſich gerne mit ihm, und erſcheint
uns gerne in ihm und durch ihn, ſobald der Anlaß nur
gegeben iſt.
Die folgenden Tage gewaͤhrten Gelegenheit, meine
Hypotheſe wahr zu machen. Ich ging in den Feldern,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/88>, abgerufen am 26.11.2024.
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