sey er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewäh¬ ren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel gegukt, ihn so¬ gleich umwenden, um zu sehen was auf der anderen Seite ist."
Das Gespräch lenkte sich auf Merck, und ich fragte, ob Merck sich auch mit Naturstudien befaßt. "O ja, sagte Goethe, er besaß sogar bedeutende naturhistorische Sammlungen. Merck war überall ein höchst vielseitiger Mensch. Er liebte auch die Kunst, und zwar ging die¬ ses so weit, daß, wenn er ein gutes Werk in den Hän¬ den eines Philisters sah, von dem er glaubte, daß er es nicht zu schätzen wisse, er Alles anwendete, um es in seine eigene Sammlung zu bringen. Er hatte in solchen Dingen gar kein Gewissen, jedes Mittel war ihm recht, und selbst eine Art von grandiosem Betrug wurde nicht verschmäht, wenn es nicht anders gehen wollte." Goethe erzählte dieser Art einige sehr interes¬ sante Beyspiele.
"Ein Mensch wie Merck, fuhr er fort, wird gar nicht mehr geboren, und wenn er geboren würde, so würde die Welt ihn anders ziehen. Es war überall eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war. Die deut¬ sche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man
ſey er zufrieden; ein Hoͤheres kann es ihm nicht gewaͤh¬ ren, und ein Weiteres ſoll er nicht dahinter ſuchen; hier iſt die Grenze. Aber den Menſchen iſt der Anblick eines Urphaͤnomens gewoͤhnlich noch nicht genug, ſie denken es muͤſſe noch weiter gehen, und ſie ſind den Kindern aͤhnlich, die, wenn ſie in einen Spiegel gegukt, ihn ſo¬ gleich umwenden, um zu ſehen was auf der anderen Seite iſt.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf Merck, und ich fragte, ob Merck ſich auch mit Naturſtudien befaßt. „O ja, ſagte Goethe, er beſaß ſogar bedeutende naturhiſtoriſche Sammlungen. Merck war uͤberall ein hoͤchſt vielſeitiger Menſch. Er liebte auch die Kunſt, und zwar ging die¬ ſes ſo weit, daß, wenn er ein gutes Werk in den Haͤn¬ den eines Philiſters ſah, von dem er glaubte, daß er es nicht zu ſchaͤtzen wiſſe, er Alles anwendete, um es in ſeine eigene Sammlung zu bringen. Er hatte in ſolchen Dingen gar kein Gewiſſen, jedes Mittel war ihm recht, und ſelbſt eine Art von grandioſem Betrug wurde nicht verſchmaͤht, wenn es nicht anders gehen wollte.“ Goethe erzaͤhlte dieſer Art einige ſehr intereſ¬ ſante Beyſpiele.
„Ein Menſch wie Merck, fuhr er fort, wird gar nicht mehr geboren, und wenn er geboren wuͤrde, ſo wuͤrde die Welt ihn anders ziehen. Es war uͤberall eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war. Die deut¬ ſche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man
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ſey er zufrieden; ein Hoͤheres kann es ihm nicht gewaͤh¬
ren, und ein Weiteres ſoll er nicht dahinter ſuchen; hier
iſt die Grenze. Aber den Menſchen iſt der Anblick eines
Urphaͤnomens gewoͤhnlich noch nicht genug, ſie denken
es muͤſſe noch weiter gehen, und ſie ſind den Kindern
aͤhnlich, die, wenn ſie in einen Spiegel gegukt, ihn ſo¬
gleich umwenden, um zu ſehen was auf der anderen
Seite iſt.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf Merck, und ich fragte,
ob Merck ſich auch mit Naturſtudien befaßt. „O ja,
ſagte Goethe, er beſaß ſogar bedeutende naturhiſtoriſche
Sammlungen. Merck war uͤberall ein hoͤchſt vielſeitiger
Menſch. Er liebte auch die Kunſt, und zwar ging die¬
ſes ſo weit, daß, wenn er ein gutes Werk in den Haͤn¬
den eines Philiſters ſah, von dem er glaubte, daß er
es nicht zu ſchaͤtzen wiſſe, er Alles anwendete, um es
in ſeine eigene Sammlung zu bringen. Er hatte in
ſolchen Dingen gar kein Gewiſſen, jedes Mittel war
ihm recht, und ſelbſt eine Art von grandioſem Betrug
wurde nicht verſchmaͤht, wenn es nicht anders gehen
wollte.“ Goethe erzaͤhlte dieſer Art einige ſehr intereſ¬
ſante Beyſpiele.
„Ein Menſch wie Merck, fuhr er fort, wird gar
nicht mehr geboren, und wenn er geboren wuͤrde, ſo
wuͤrde die Welt ihn anders ziehen. Es war uͤberall
eine gute Zeit, als ich mit Merck jung war. Die deut¬
ſche Literatur war noch eine reine Tafel, auf die man
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/83>, abgerufen am 25.11.2024.
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