Das Gespräch lenkte sich auf die Franzosen, auf die Vorlesungen von Guizot, Villemain und Cousin, und Goethe sprach mit hoher Achtung über den Stand¬ punct dieser Männer, und wie sie alles von einer freyen und neuen Seite betrachteten, und überall grade aufs Ziel losgingen. "Es ist, sagte Goethe, als wäre man bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Krüm¬ mungen gelangt; diese Männer aber sind kühn und frey genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thür an derjenigen Stelle zu machen, wo man sogleich auf den breitesten Weg des Gartens tritt."
Von Cousin kamen wir auf indische Philosophie. "Diese Philosophie, sagte Goethe, hat, wenn die Nach¬ richten des Engländers wahr sind, durchaus nichts Frem¬ des, vielmehr wiederholen sich in ihr die Epochen, die wir alle selber durchmachen. Wir sind Sensualisten, so lange wir Kinder sind; Idealisten, wenn wir lieben und in den geliebten Gegenstand Eigenschaften legen, die nicht eigentlich darin sind. Die Liebe wankt, wir zwei¬ feln an der Treue und sind Skeptiker ehe wir es glaub¬ ten. Der Rest des Lebens ist gleichgültig, wir lassen es gehen wie es will, und endigen mit dem Quietis¬ mus, wie die indischen Philosophen auch."
"In der deutschen Philosophie wären noch zwey große Dinge zu thun. Kant hat die Critik der reinen Vernunft geschrieben, womit unendlich viel geschehen, aber der Kreis nicht abgeschlossen ist. Jetzt müßte ein
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die Franzoſen, auf die Vorleſungen von Guizot, Villemain und Couſin, und Goethe ſprach mit hoher Achtung uͤber den Stand¬ punct dieſer Maͤnner, und wie ſie alles von einer freyen und neuen Seite betrachteten, und uͤberall grade aufs Ziel losgingen. „Es iſt, ſagte Goethe, als waͤre man bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Kruͤm¬ mungen gelangt; dieſe Maͤnner aber ſind kuͤhn und frey genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thuͤr an derjenigen Stelle zu machen, wo man ſogleich auf den breiteſten Weg des Gartens tritt.“
Von Couſin kamen wir auf indiſche Philoſophie. „Dieſe Philoſophie, ſagte Goethe, hat, wenn die Nach¬ richten des Englaͤnders wahr ſind, durchaus nichts Frem¬ des, vielmehr wiederholen ſich in ihr die Epochen, die wir alle ſelber durchmachen. Wir ſind Senſualiſten, ſo lange wir Kinder ſind; Idealiſten, wenn wir lieben und in den geliebten Gegenſtand Eigenſchaften legen, die nicht eigentlich darin ſind. Die Liebe wankt, wir zwei¬ feln an der Treue und ſind Skeptiker ehe wir es glaub¬ ten. Der Reſt des Lebens iſt gleichguͤltig, wir laſſen es gehen wie es will, und endigen mit dem Quietis¬ mus, wie die indiſchen Philoſophen auch.“
„In der deutſchen Philoſophie waͤren noch zwey große Dinge zu thun. Kant hat die Critik der reinen Vernunft geſchrieben, womit unendlich viel geſchehen, aber der Kreis nicht abgeſchloſſen iſt. Jetzt muͤßte ein
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Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die Franzoſen, auf die
Vorleſungen von Guizot, Villemain und Couſin,
und Goethe ſprach mit hoher Achtung uͤber den Stand¬
punct dieſer Maͤnner, und wie ſie alles von einer freyen
und neuen Seite betrachteten, und uͤberall grade aufs
Ziel losgingen. „Es iſt, ſagte Goethe, als waͤre man
bis jetzt in einen Garten auf Umwegen und durch Kruͤm¬
mungen gelangt; dieſe Maͤnner aber ſind kuͤhn und frey
genug, die Mauer dort einzureißen und eine Thuͤr an
derjenigen Stelle zu machen, wo man ſogleich auf den
breiteſten Weg des Gartens tritt.“
Von Couſin kamen wir auf indiſche Philoſophie.
„Dieſe Philoſophie, ſagte Goethe, hat, wenn die Nach¬
richten des Englaͤnders wahr ſind, durchaus nichts Frem¬
des, vielmehr wiederholen ſich in ihr die Epochen, die
wir alle ſelber durchmachen. Wir ſind Senſualiſten, ſo
lange wir Kinder ſind; Idealiſten, wenn wir lieben und
in den geliebten Gegenſtand Eigenſchaften legen, die
nicht eigentlich darin ſind. Die Liebe wankt, wir zwei¬
feln an der Treue und ſind Skeptiker ehe wir es glaub¬
ten. Der Reſt des Lebens iſt gleichguͤltig, wir laſſen
es gehen wie es will, und endigen mit dem Quietis¬
mus, wie die indiſchen Philoſophen auch.“
„In der deutſchen Philoſophie waͤren noch zwey
große Dinge zu thun. Kant hat die Critik der reinen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/81>, abgerufen am 25.11.2024.
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