Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle vom Tiger und Löwen, worüber der Prinz sehr glück¬ lich war, indem er den Effect einer großen Kunst em¬ pfand, und ich nicht weniger glücklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Composition deutlich hineinsah. Ich empfand daran eine gewisse Allgegen¬ wart des Gedankens, welches daher entstanden seyn mag, daß der Dichter den Gegenstand so viele Jahre in sei¬ nem Innern hegte, und dadurch so sehr Herr seines Stof¬ fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in höch¬ ster Klarheit zugleich übersehen, und jede einzelne Partie geschickt dahin stellen konnte, wo sie für sich nothwen¬ dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht sich alles vorwärts und rückwärts und ist zugleich an seiner Stelle recht, so daß man als Composition sich nicht leicht etwas Vollkom¬ meneres denken kann. Indem wir weiter lasen empfand ich den lebhaften Wunsch, daß Goethe selbst dieses Ju¬ wel einer Novelle als ein fremdes Werk möchte betrach¬ ten können. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des Gegenstandes grade ein sehr günstiges Maß habe, sowohl für den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬ beiten, als für den Leser um dem Ganzen wie dem Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.
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Donnerstag, den 10. Maͤrz 1831.
Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz ſehr gluͤck¬ lich war, indem er den Effect einer großen Kunſt em¬ pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das geheime Gewebe einer vollendeten Compoſition deutlich hineinſah. Ich empfand daran eine gewiſſe Allgegen¬ wart des Gedankens, welches daher entſtanden ſeyn mag, daß der Dichter den Gegenſtand ſo viele Jahre in ſei¬ nem Innern hegte, und dadurch ſo ſehr Herr ſeines Stof¬ fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬ ſter Klarheit zugleich uͤberſehen, und jede einzelne Partie geſchickt dahin ſtellen konnte, wo ſie fuͤr ſich nothwen¬ dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und darauf hinwirkte. Nun bezieht ſich alles vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts und iſt zugleich an ſeiner Stelle recht, ſo daß man als Compoſition ſich nicht leicht etwas Vollkom¬ meneres denken kann. Indem wir weiter laſen empfand ich den lebhaften Wunſch, daß Goethe ſelbſt dieſes Ju¬ wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬ ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des Gegenſtandes grade ein ſehr guͤnſtiges Maß habe, ſowohl fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬ beiten, als fuͤr den Leſer um dem Ganzen wie dem Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.
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Donnerstag, den 10. Maͤrz 1831.
Ich las heute mit dem Prinzen Goethe's Novelle
vom Tiger und Loͤwen, woruͤber der Prinz ſehr gluͤck¬
lich war, indem er den Effect einer großen Kunſt em¬
pfand, und ich nicht weniger gluͤcklich, indem ich in das
geheime Gewebe einer vollendeten Compoſition deutlich
hineinſah. Ich empfand daran eine gewiſſe Allgegen¬
wart des Gedankens, welches daher entſtanden ſeyn mag,
daß der Dichter den Gegenſtand ſo viele Jahre in ſei¬
nem Innern hegte, und dadurch ſo ſehr Herr ſeines Stof¬
fes ward, daß er das Ganze wie das Einzelne in hoͤch¬
ſter Klarheit zugleich uͤberſehen, und jede einzelne Partie
geſchickt dahin ſtellen konnte, wo ſie fuͤr ſich nothwen¬
dig war und zugleich das Kommende vorbereitete und
darauf hinwirkte. Nun bezieht ſich alles vorwaͤrts und
ruͤckwaͤrts und iſt zugleich an ſeiner Stelle recht, ſo daß
man als Compoſition ſich nicht leicht etwas Vollkom¬
meneres denken kann. Indem wir weiter laſen empfand
ich den lebhaften Wunſch, daß Goethe ſelbſt dieſes Ju¬
wel einer Novelle als ein fremdes Werk moͤchte betrach¬
ten koͤnnen. Zugleich bedachte ich, daß der Umfang des
Gegenſtandes grade ein ſehr guͤnſtiges Maß habe, ſowohl
fuͤr den Poeten um Alles klug durcheinander zu verar¬
beiten, als fuͤr den Leſer um dem Ganzen wie dem
Einzelnen mit einiger Vernunft wieder beyzukommen.
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/317>, abgerufen am 23.11.2024.
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