Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

gehe, daß selbst die Fragmente sich nicht mittheilen las¬
sen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stück
spielenden Personen, die fast drey Seiten füllten und
sich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle
erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbsten
lustigsten Sorte, so daß man nicht aus dem Lachen
kam. Manche gingen auf körperliche Fehler, und zeich¬
neten eine Figur dermaßen, daß sie lebendig vor die
Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigsten
Unarten und Laster, und ließen einen tiefen Blick in
die Breite der unsittlichen Welt voraussetzen. Wäre
das Stück zu Stande gekommen, so hätte man die Er¬
findung bewundern müssen, der es geglückt, so mannig¬
faltige symbolische Figuren in eine einzige lebendige
Handlung zu verknüpfen.

"Es war nicht zu denken, daß ich das Stück hätte
fertig machen können, sagte Goethe, indem es einen Gipfel
von Muthwillen voraussetzte, der mich wohl augen¬
blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernst
meiner Natur lag, und auf dem ich mich also nicht hal¬
ten konnte. Und dann sind in Deutschland unsere Kreise
zu beschränkt, als daß man mit so etwas hätte hervor¬
treten können. Auf einem breiten Terrain, wie Paris,
mag dergleichen sich herumtummeln, so wie man auch
dort wohl ein Beranger seyn kann, welches in Frank¬
furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken wäre."


gehe, daß ſelbſt die Fragmente ſich nicht mittheilen laſ¬
ſen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stuͤck
ſpielenden Perſonen, die faſt drey Seiten fuͤllten und
ſich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle
erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbſten
luſtigſten Sorte, ſo daß man nicht aus dem Lachen
kam. Manche gingen auf koͤrperliche Fehler, und zeich¬
neten eine Figur dermaßen, daß ſie lebendig vor die
Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigſten
Unarten und Laſter, und ließen einen tiefen Blick in
die Breite der unſittlichen Welt vorausſetzen. Waͤre
das Stuͤck zu Stande gekommen, ſo haͤtte man die Er¬
findung bewundern muͤſſen, der es gegluͤckt, ſo mannig¬
faltige ſymboliſche Figuren in eine einzige lebendige
Handlung zu verknuͤpfen.

„Es war nicht zu denken, daß ich das Stuͤck haͤtte
fertig machen koͤnnen, ſagte Goethe, indem es einen Gipfel
von Muthwillen vorausſetzte, der mich wohl augen¬
blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernſt
meiner Natur lag, und auf dem ich mich alſo nicht hal¬
ten konnte. Und dann ſind in Deutſchland unſere Kreiſe
zu beſchraͤnkt, als daß man mit ſo etwas haͤtte hervor¬
treten koͤnnen. Auf einem breiten Terrain, wie Paris,
mag dergleichen ſich herumtummeln, ſo wie man auch
dort wohl ein Béranger ſeyn kann, welches in Frank¬
furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken waͤre.“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0311" n="301"/>
gehe, daß &#x017F;elb&#x017F;t die Fragmente &#x017F;ich nicht mittheilen la&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stu&#x0364;ck<lb/>
&#x017F;pielenden Per&#x017F;onen, die fa&#x017F;t drey Seiten fu&#x0364;llten und<lb/>
&#x017F;ich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle<lb/>
erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derb&#x017F;ten<lb/>
lu&#x017F;tig&#x017F;ten Sorte, &#x017F;o daß man nicht aus dem Lachen<lb/>
kam. Manche gingen auf ko&#x0364;rperliche Fehler, und zeich¬<lb/>
neten eine Figur dermaßen, daß &#x017F;ie lebendig vor die<lb/>
Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltig&#x017F;ten<lb/>
Unarten und La&#x017F;ter, und ließen einen tiefen Blick in<lb/>
die Breite der un&#x017F;ittlichen Welt voraus&#x017F;etzen. Wa&#x0364;re<lb/>
das Stu&#x0364;ck zu Stande gekommen, &#x017F;o ha&#x0364;tte man die Er¬<lb/>
findung bewundern mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, der es geglu&#x0364;ckt, &#x017F;o mannig¬<lb/>
faltige &#x017F;ymboli&#x017F;che Figuren in eine einzige lebendige<lb/>
Handlung zu verknu&#x0364;pfen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Es war nicht zu denken, daß ich das Stu&#x0364;ck ha&#x0364;tte<lb/>
fertig machen ko&#x0364;nnen, &#x017F;agte Goethe, indem es einen Gipfel<lb/>
von Muthwillen voraus&#x017F;etzte, der mich wohl augen¬<lb/>
blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ern&#x017F;t<lb/>
meiner Natur lag, und auf dem ich mich al&#x017F;o nicht hal¬<lb/>
ten konnte. Und dann &#x017F;ind in Deut&#x017F;chland un&#x017F;ere Krei&#x017F;e<lb/>
zu be&#x017F;chra&#x0364;nkt, als daß man mit &#x017F;o etwas ha&#x0364;tte hervor¬<lb/>
treten ko&#x0364;nnen. Auf einem breiten Terrain, wie Paris,<lb/>
mag dergleichen &#x017F;ich herumtummeln, &#x017F;o wie man auch<lb/>
dort wohl ein <hi rendition="#g">Béranger</hi> &#x017F;eyn kann, welches in Frank¬<lb/>
furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken wa&#x0364;re.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0311] gehe, daß ſelbſt die Fragmente ſich nicht mittheilen laſ¬ ſen. Goethe las mir darauf den Zettel der im Stuͤck ſpielenden Perſonen, die faſt drey Seiten fuͤllten und ſich gegen hundert belaufen mochten. Es waren alle erdenklichen Schimpfnamen, mitunter von der derbſten luſtigſten Sorte, ſo daß man nicht aus dem Lachen kam. Manche gingen auf koͤrperliche Fehler, und zeich¬ neten eine Figur dermaßen, daß ſie lebendig vor die Augen trat; andere deuteten auf die mannigfaltigſten Unarten und Laſter, und ließen einen tiefen Blick in die Breite der unſittlichen Welt vorausſetzen. Waͤre das Stuͤck zu Stande gekommen, ſo haͤtte man die Er¬ findung bewundern muͤſſen, der es gegluͤckt, ſo mannig¬ faltige ſymboliſche Figuren in eine einzige lebendige Handlung zu verknuͤpfen. „Es war nicht zu denken, daß ich das Stuͤck haͤtte fertig machen koͤnnen, ſagte Goethe, indem es einen Gipfel von Muthwillen vorausſetzte, der mich wohl augen¬ blicklich anwandelte, aber im Grunde nicht in dem Ernſt meiner Natur lag, und auf dem ich mich alſo nicht hal¬ ten konnte. Und dann ſind in Deutſchland unſere Kreiſe zu beſchraͤnkt, als daß man mit ſo etwas haͤtte hervor¬ treten koͤnnen. Auf einem breiten Terrain, wie Paris, mag dergleichen ſich herumtummeln, ſo wie man auch dort wohl ein Béranger ſeyn kann, welches in Frank¬ furt oder Weimar gleichfalls nicht zu denken waͤre.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/311
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/311>, abgerufen am 24.11.2024.