Ich las heute viel in Goethe's Farbenlehre, und freute mich zu bemerken, daß ich diese Jahre her, durch vielfache Übung mit den Phänomenen, in das Werk so hineingewachsen, um jetzt seine großen Verdienste mit einiger Klarheit empfinden zu können. Ich bewundere, was es gekostet hat, ein solches Werk zusammenzubrin¬ gen, indem mir nicht bloß die letzten Resultate erschei¬ nen, sondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬ macht worden, um zu festen Resultaten zu gelangen.
Nur ein Mensch von großer moralischer Kraft konnte das durchführen, und wer es ihm nachthun wollte, müßte sich daran sehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬ wahre, Egoistische würde aus der Seele verschwinden müs¬ sen, oder die reine, wahre Natur würde ihn verschmähen. Bedächten dieses die Menschen, so würden sie gern ei¬ nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis einer solchen Wissenschaft auf solche Weise durchmachen, um daran Sinne, Geist und Charakter zu prüfen und zu erbauen. Sie würden Respect vor dem Gesetzlichen gewinnen, und dem Göttlichen so nahe treten, als es einem irdischen Geiste überall nur möglich.
Dagegen beschäftiget man sich viel zu viel mit Poesie und übersinnlichen Mysterien, welches subjective nach¬ giebige Dinge sind, die an den Menschen weiter keine Anforderungen machen, sondern ihm schmeicheln und im günstigen Fall ihn lassen wie er ist.
19*
Sonnabend, den 26. Februar 1831.
Ich las heute viel in Goethe's Farbenlehre, und freute mich zu bemerken, daß ich dieſe Jahre her, durch vielfache Übung mit den Phaͤnomenen, in das Werk ſo hineingewachſen, um jetzt ſeine großen Verdienſte mit einiger Klarheit empfinden zu koͤnnen. Ich bewundere, was es gekoſtet hat, ein ſolches Werk zuſammenzubrin¬ gen, indem mir nicht bloß die letzten Reſultate erſchei¬ nen, ſondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬ macht worden, um zu feſten Reſultaten zu gelangen.
Nur ein Menſch von großer moraliſcher Kraft konnte das durchfuͤhren, und wer es ihm nachthun wollte, muͤßte ſich daran ſehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬ wahre, Egoiſtiſche wuͤrde aus der Seele verſchwinden muͤſ¬ ſen, oder die reine, wahre Natur wuͤrde ihn verſchmaͤhen. Bedaͤchten dieſes die Menſchen, ſo wuͤrden ſie gern ei¬ nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis einer ſolchen Wiſſenſchaft auf ſolche Weiſe durchmachen, um daran Sinne, Geiſt und Charakter zu pruͤfen und zu erbauen. Sie wuͤrden Reſpect vor dem Geſetzlichen gewinnen, und dem Goͤttlichen ſo nahe treten, als es einem irdiſchen Geiſte uͤberall nur moͤglich.
Dagegen beſchaͤftiget man ſich viel zu viel mit Poeſie und uͤberſinnlichen Myſterien, welches ſubjective nach¬ giebige Dinge ſind, die an den Menſchen weiter keine Anforderungen machen, ſondern ihm ſchmeicheln und im guͤnſtigen Fall ihn laſſen wie er iſt.
19*
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0301"n="291"/></div><divn="4"><datelinerendition="#right">Sonnabend, den 26. Februar 1831.<lb/></dateline><p>Ich las heute viel in Goethe's <hirendition="#g">Farbenlehre</hi>, und<lb/>
freute mich zu bemerken, daß ich dieſe Jahre her, durch<lb/>
vielfache Übung mit den Phaͤnomenen, in das Werk ſo<lb/>
hineingewachſen, um jetzt ſeine großen Verdienſte mit<lb/>
einiger Klarheit empfinden zu koͤnnen. Ich bewundere,<lb/>
was es gekoſtet hat, ein ſolches Werk zuſammenzubrin¬<lb/>
gen, indem mir nicht bloß die letzten Reſultate erſchei¬<lb/>
nen, ſondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬<lb/>
macht worden, um zu feſten Reſultaten zu gelangen.</p><lb/><p>Nur ein Menſch von großer moraliſcher Kraft konnte<lb/>
das durchfuͤhren, und wer es ihm nachthun wollte, muͤßte<lb/>ſich daran ſehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬<lb/>
wahre, Egoiſtiſche wuͤrde aus der Seele verſchwinden muͤſ¬<lb/>ſen, oder die reine, wahre Natur wuͤrde ihn verſchmaͤhen.<lb/>
Bedaͤchten dieſes die Menſchen, ſo wuͤrden ſie gern ei¬<lb/>
nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis<lb/>
einer ſolchen Wiſſenſchaft auf ſolche Weiſe durchmachen,<lb/>
um daran Sinne, Geiſt und Charakter zu pruͤfen und<lb/>
zu erbauen. Sie wuͤrden Reſpect vor dem Geſetzlichen<lb/>
gewinnen, und dem Goͤttlichen ſo nahe treten, als es<lb/>
einem irdiſchen Geiſte uͤberall nur moͤglich.</p><lb/><p>Dagegen beſchaͤftiget man ſich viel zu viel mit Poeſie<lb/>
und uͤberſinnlichen Myſterien, welches ſubjective nach¬<lb/>
giebige Dinge ſind, die an den Menſchen weiter keine<lb/>
Anforderungen machen, ſondern ihm ſchmeicheln und im<lb/>
guͤnſtigen Fall ihn laſſen wie er iſt.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">19*<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[291/0301]
Sonnabend, den 26. Februar 1831.
Ich las heute viel in Goethe's Farbenlehre, und
freute mich zu bemerken, daß ich dieſe Jahre her, durch
vielfache Übung mit den Phaͤnomenen, in das Werk ſo
hineingewachſen, um jetzt ſeine großen Verdienſte mit
einiger Klarheit empfinden zu koͤnnen. Ich bewundere,
was es gekoſtet hat, ein ſolches Werk zuſammenzubrin¬
gen, indem mir nicht bloß die letzten Reſultate erſchei¬
nen, ſondern indem ich tiefer blicke, was alles durchge¬
macht worden, um zu feſten Reſultaten zu gelangen.
Nur ein Menſch von großer moraliſcher Kraft konnte
das durchfuͤhren, und wer es ihm nachthun wollte, muͤßte
ſich daran ſehr hoch hinaufbringen. Alles Unzarte, Un¬
wahre, Egoiſtiſche wuͤrde aus der Seele verſchwinden muͤſ¬
ſen, oder die reine, wahre Natur wuͤrde ihn verſchmaͤhen.
Bedaͤchten dieſes die Menſchen, ſo wuͤrden ſie gern ei¬
nige Jahre ihres Lebens daran wenden, und den Kreis
einer ſolchen Wiſſenſchaft auf ſolche Weiſe durchmachen,
um daran Sinne, Geiſt und Charakter zu pruͤfen und
zu erbauen. Sie wuͤrden Reſpect vor dem Geſetzlichen
gewinnen, und dem Goͤttlichen ſo nahe treten, als es
einem irdiſchen Geiſte uͤberall nur moͤglich.
Dagegen beſchaͤftiget man ſich viel zu viel mit Poeſie
und uͤberſinnlichen Myſterien, welches ſubjective nach¬
giebige Dinge ſind, die an den Menſchen weiter keine
Anforderungen machen, ſondern ihm ſchmeicheln und im
guͤnſtigen Fall ihn laſſen wie er iſt.
19*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/301>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.