Heute bey Tisch war die heiterste Gesellschaft. Außer den Weimarischen Freunden waren auch einige von Ber¬ lin zurückkehrende Naturforscher zugegen, unter denen Herr von Martius aus München, der an Goethe's Seite saß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigsten Dinge wurde hin und her gescherzt und gesprochen. Goethe war von besonders guter Laune und überaus mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, Moses von Rossini, ward viel beredet. Man tadelte das Süjet, man lobte und tadelte die Musik; Goethe äußerte sich folgendermaßen.
"Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder, sagte er, wie Ihr Süjet und Musik trennen und jedes für sich genießen könnt. Ihr sagt, das Süjet tauge nicht, aber Ihr hättet es ignorirt und Euch an der trefflichen Musik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung Eurer Natur, und wie Eure Ohren im Stande sind, anmuthigen Tönen zu lauschen, während der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenständen geplagt wird."
"Und daß Euer Moses doch wirklich gar zu absurd ist, werdet Ihr nicht läugnen. So wie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten! -- Dieß ist sehr unpassend. Wenn Du beten willst, steht geschrieben, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Thür hinter dir zu. Aber auf dem Theater soll man nicht beten."
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Dienſtag, den 7. October 1828.
Heute bey Tiſch war die heiterſte Geſellſchaft. Außer den Weimariſchen Freunden waren auch einige von Ber¬ lin zuruͤckkehrende Naturforſcher zugegen, unter denen Herr von Martius aus Muͤnchen, der an Goethe's Seite ſaß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigſten Dinge wurde hin und her geſcherzt und geſprochen. Goethe war von beſonders guter Laune und uͤberaus mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte Oper, Moſes von Roſſini, ward viel beredet. Man tadelte das Suͤjet, man lobte und tadelte die Muſik; Goethe aͤußerte ſich folgendermaßen.
„Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder, ſagte er, wie Ihr Suͤjet und Muſik trennen und jedes fuͤr ſich genießen koͤnnt. Ihr ſagt, das Suͤjet tauge nicht, aber Ihr haͤttet es ignorirt und Euch an der trefflichen Muſik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung Eurer Natur, und wie Eure Ohren im Stande ſind, anmuthigen Toͤnen zu lauſchen, waͤhrend der gewaltigſte Sinn, das Auge, von den abſurdeſten Gegenſtaͤnden geplagt wird.“
„Und daß Euer Moſes doch wirklich gar zu abſurd iſt, werdet Ihr nicht laͤugnen. So wie der Vorhang aufgeht, ſtehen die Leute da und beten! — Dieß iſt ſehr unpaſſend. Wenn Du beten willſt, ſteht geſchrieben, ſo gehe in dein Kaͤmmerlein und ſchleuß die Thuͤr hinter dir zu. Aber auf dem Theater ſoll man nicht beten.“
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Dienſtag, den 7. October 1828.
Heute bey Tiſch war die heiterſte Geſellſchaft. Außer
den Weimariſchen Freunden waren auch einige von Ber¬
lin zuruͤckkehrende Naturforſcher zugegen, unter denen
Herr von Martius aus Muͤnchen, der an Goethe's
Seite ſaß, mir bekannt war. Über die mannigfaltigſten
Dinge wurde hin und her geſcherzt und geſprochen.
Goethe war von beſonders guter Laune und uͤberaus
mittheilend. Das Theater kam zur Sprache, die letzte
Oper, Moſes von Roſſini, ward viel beredet. Man
tadelte das Suͤjet, man lobte und tadelte die Muſik;
Goethe aͤußerte ſich folgendermaßen.
„Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder, ſagte
er, wie Ihr Suͤjet und Muſik trennen und jedes fuͤr
ſich genießen koͤnnt. Ihr ſagt, das Suͤjet tauge nicht,
aber Ihr haͤttet es ignorirt und Euch an der trefflichen
Muſik erfreuet. Ich bewundere wirklich die Einrichtung
Eurer Natur, und wie Eure Ohren im Stande ſind,
anmuthigen Toͤnen zu lauſchen, waͤhrend der gewaltigſte
Sinn, das Auge, von den abſurdeſten Gegenſtaͤnden
geplagt wird.“
„Und daß Euer Moſes doch wirklich gar zu abſurd
iſt, werdet Ihr nicht laͤugnen. So wie der Vorhang
aufgeht, ſtehen die Leute da und beten! — Dieß iſt ſehr
unpaſſend. Wenn Du beten willſt, ſteht geſchrieben, ſo
gehe in dein Kaͤmmerlein und ſchleuß die Thuͤr hinter
dir zu. Aber auf dem Theater ſoll man nicht beten.“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/29>, abgerufen am 23.11.2024.
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