Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

gedacht. Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf
der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner
recht bleiben, der Autor mag sich auch später entwickeln
und verändern wie er wolle."

Ich gab diesen guten Worten meine vollkommene
Beystimmung. "Es kam mir in diesen Tagen ein Blatt
Maculatur in die Hände, fuhr Goethe fort, das ich
las. Hm! sagte ich zu mir selber, was da geschrieben
steht, ist gar nicht so unrecht, du denkst auch nicht an¬
ders, und würdest es auch nicht viel anders gesagt ha¬
ben. Als ich aber das Blatt recht besehe, war es ein
Stück aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬
mer vorwärts strebe, so vergesse ich was ich geschrieben
habe, wo ich denn sehr bald in den Fall komme, meine
Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen."

Ich erkundigte mich nach dem Faust und wie er
vorrücke. "Der läßt mich nun nicht wieder los, sagte
Goethe, ich denke und erfinde täglich daran fort. Ich
habe nun auch das ganze Manuscript des zweyten
Theiles heute heften lassen, damit es mir als eine sinn¬
liche Masse vor Augen sey. Die Stelle des fehlenden
vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefüllt,
und es ist keine Frage, daß das Fertige anlocket und
reizet, um das zu vollenden was noch zu thun ist. Es
liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr als man denkt,
und man muß dem Geistigen mit allerley Künsten zu
Hülfe kommen."

gedacht. Dann wird ſein Geſchriebenes, wenn es auf
der Stufe recht war, wo es entſtanden, auch ferner
recht bleiben, der Autor mag ſich auch ſpaͤter entwickeln
und veraͤndern wie er wolle.“

Ich gab dieſen guten Worten meine vollkommene
Beyſtimmung. „Es kam mir in dieſen Tagen ein Blatt
Maculatur in die Haͤnde, fuhr Goethe fort, das ich
las. Hm! ſagte ich zu mir ſelber, was da geſchrieben
ſteht, iſt gar nicht ſo unrecht, du denkſt auch nicht an¬
ders, und wuͤrdeſt es auch nicht viel anders geſagt ha¬
ben. Als ich aber das Blatt recht beſehe, war es ein
Stuͤck aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬
mer vorwaͤrts ſtrebe, ſo vergeſſe ich was ich geſchrieben
habe, wo ich denn ſehr bald in den Fall komme, meine
Sachen als etwas durchaus Fremdes anzuſehen.“

Ich erkundigte mich nach dem Fauſt und wie er
vorruͤcke. „Der laͤßt mich nun nicht wieder los, ſagte
Goethe, ich denke und erfinde taͤglich daran fort. Ich
habe nun auch das ganze Manuſcript des zweyten
Theiles heute heften laſſen, damit es mir als eine ſinn¬
liche Maſſe vor Augen ſey. Die Stelle des fehlenden
vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefuͤllt,
und es iſt keine Frage, daß das Fertige anlocket und
reizet, um das zu vollenden was noch zu thun iſt. Es
liegt in ſolchen ſinnlichen Dingen mehr als man denkt,
und man muß dem Geiſtigen mit allerley Kuͤnſten zu
Huͤlfe kommen.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0284" n="274"/>
gedacht. Dann wird &#x017F;ein Ge&#x017F;chriebenes, wenn es auf<lb/>
der Stufe recht war, wo es ent&#x017F;tanden, auch ferner<lb/>
recht bleiben, der Autor mag &#x017F;ich auch &#x017F;pa&#x0364;ter entwickeln<lb/>
und vera&#x0364;ndern wie er wolle.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich gab die&#x017F;en guten Worten meine vollkommene<lb/>
Bey&#x017F;timmung. &#x201E;Es kam mir in die&#x017F;en Tagen ein Blatt<lb/>
Maculatur in die Ha&#x0364;nde, fuhr Goethe fort, das ich<lb/>
las. Hm! &#x017F;agte ich zu mir &#x017F;elber, was da ge&#x017F;chrieben<lb/>
&#x017F;teht, i&#x017F;t gar nicht &#x017F;o unrecht, du denk&#x017F;t auch nicht an¬<lb/>
ders, und wu&#x0364;rde&#x017F;t es auch nicht viel anders ge&#x017F;agt ha¬<lb/>
ben. Als ich aber das Blatt recht be&#x017F;ehe, war es ein<lb/>
Stu&#x0364;ck aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬<lb/>
mer vorwa&#x0364;rts &#x017F;trebe, &#x017F;o verge&#x017F;&#x017F;e ich was ich ge&#x017F;chrieben<lb/>
habe, wo ich denn &#x017F;ehr bald in den Fall komme, meine<lb/>
Sachen als etwas durchaus Fremdes anzu&#x017F;ehen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich erkundigte mich nach dem <hi rendition="#g">Fau&#x017F;t</hi> und wie er<lb/>
vorru&#x0364;cke. &#x201E;Der la&#x0364;ßt mich nun nicht wieder los, &#x017F;agte<lb/>
Goethe, ich denke und erfinde ta&#x0364;glich daran fort. Ich<lb/>
habe nun auch das ganze Manu&#x017F;cript des zweyten<lb/>
Theiles heute heften la&#x017F;&#x017F;en, damit es mir als eine &#x017F;inn¬<lb/>
liche Ma&#x017F;&#x017F;e vor Augen &#x017F;ey. Die Stelle des fehlenden<lb/>
vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefu&#x0364;llt,<lb/>
und es i&#x017F;t keine Frage, daß das Fertige anlocket und<lb/>
reizet, um das zu vollenden was noch zu thun i&#x017F;t. Es<lb/>
liegt in &#x017F;olchen &#x017F;innlichen Dingen mehr als man denkt,<lb/>
und man muß dem Gei&#x017F;tigen mit allerley Ku&#x0364;n&#x017F;ten zu<lb/>
Hu&#x0364;lfe kommen.&#x201C;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0284] gedacht. Dann wird ſein Geſchriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entſtanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag ſich auch ſpaͤter entwickeln und veraͤndern wie er wolle.“ Ich gab dieſen guten Worten meine vollkommene Beyſtimmung. „Es kam mir in dieſen Tagen ein Blatt Maculatur in die Haͤnde, fuhr Goethe fort, das ich las. Hm! ſagte ich zu mir ſelber, was da geſchrieben ſteht, iſt gar nicht ſo unrecht, du denkſt auch nicht an¬ ders, und wuͤrdeſt es auch nicht viel anders geſagt ha¬ ben. Als ich aber das Blatt recht beſehe, war es ein Stuͤck aus meinen eigenen Werken. Denn da ich im¬ mer vorwaͤrts ſtrebe, ſo vergeſſe ich was ich geſchrieben habe, wo ich denn ſehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzuſehen.“ Ich erkundigte mich nach dem Fauſt und wie er vorruͤcke. „Der laͤßt mich nun nicht wieder los, ſagte Goethe, ich denke und erfinde taͤglich daran fort. Ich habe nun auch das ganze Manuſcript des zweyten Theiles heute heften laſſen, damit es mir als eine ſinn¬ liche Maſſe vor Augen ſey. Die Stelle des fehlenden vierten Actes habe ich mit weißem Papier ausgefuͤllt, und es iſt keine Frage, daß das Fertige anlocket und reizet, um das zu vollenden was noch zu thun iſt. Es liegt in ſolchen ſinnlichen Dingen mehr als man denkt, und man muß dem Geiſtigen mit allerley Kuͤnſten zu Huͤlfe kommen.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/284
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/284>, abgerufen am 22.11.2024.