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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in
meiner Übersetzung also lautet:

"Aber jetzt saget mir: wenn man eine Wahrheit
entdeckt hat, muß man sie den anderen Menschen mit¬
theilen? Wenn ihr sie bekannt macht, so werdet ihr
von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem
entgegengesetzten Irrthum leben, indem sie versichern,
daß eben dieser Irrthum die Wahrheit, und alles was
dahin geht, ihn zu zerstören, der größte Irrthum sel¬
ber sey."

Diese Stelle schien mir auf die Art, wie die Män¬
ner vom Fach Ihre Farbenlehre aufgenommen, eine An¬
wendung zu finden, als wäre sie dafür geschrieben wor¬
den, und sie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe
das ganze Buch kaufte. Es enthielt Paul und Vir¬
ginia
und "La Chaumiere indienne" von Bernardin
de Saint Pierre
, und ich hatte also auch übrigens mei¬
nen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit
Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfassers er¬
quickte mich, und seine zarte Kunst, besonders wie er
bekannte Gleichnisse schicklich anwendet, wußte ich zu
erkennen und zu schätzen.

Auch die erste Bekanntschaft mit Rousseau und
Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein
Brief nicht selbst zum Buche werde, so will ich über
diese, so wie über vieles Andere, das ich noch sagen
möchte, für heute hinweggehen.

Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in
meiner Überſetzung alſo lautet:

„Aber jetzt ſaget mir: wenn man eine Wahrheit
entdeckt hat, muß man ſie den anderen Menſchen mit¬
theilen? Wenn ihr ſie bekannt macht, ſo werdet ihr
von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem
entgegengeſetzten Irrthum leben, indem ſie verſichern,
daß eben dieſer Irrthum die Wahrheit, und alles was
dahin geht, ihn zu zerſtoͤren, der groͤßte Irrthum ſel¬
ber ſey.“

Dieſe Stelle ſchien mir auf die Art, wie die Maͤn¬
ner vom Fach Ihre Farbenlehre aufgenommen, eine An¬
wendung zu finden, als waͤre ſie dafuͤr geſchrieben wor¬
den, und ſie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe
das ganze Buch kaufte. Es enthielt Paul und Vir¬
ginia
und „La Chaumière indienne“ von Bernardin
de Saint Pierre
, und ich hatte alſo auch uͤbrigens mei¬
nen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit
Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfaſſers er¬
quickte mich, und ſeine zarte Kunſt, beſonders wie er
bekannte Gleichniſſe ſchicklich anwendet, wußte ich zu
erkennen und zu ſchaͤtzen.

Auch die erſte Bekanntſchaft mit Rouſſeau und
Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein
Brief nicht ſelbſt zum Buche werde, ſo will ich uͤber
dieſe, ſo wie uͤber vieles Andere, das ich noch ſagen
moͤchte, fuͤr heute hinweggehen.

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[236/0246] Hand nahm, mir eine Stelle vor Augen trat, die in meiner Überſetzung alſo lautet: „Aber jetzt ſaget mir: wenn man eine Wahrheit entdeckt hat, muß man ſie den anderen Menſchen mit¬ theilen? Wenn ihr ſie bekannt macht, ſo werdet ihr von einer Unzahl von Leuten verfolgt, die von dem entgegengeſetzten Irrthum leben, indem ſie verſichern, daß eben dieſer Irrthum die Wahrheit, und alles was dahin geht, ihn zu zerſtoͤren, der groͤßte Irrthum ſel¬ ber ſey.“ Dieſe Stelle ſchien mir auf die Art, wie die Maͤn¬ ner vom Fach Ihre Farbenlehre aufgenommen, eine An¬ wendung zu finden, als waͤre ſie dafuͤr geſchrieben wor¬ den, und ſie gefiel mir dermaßen, daß ich ihr zu Liebe das ganze Buch kaufte. Es enthielt Paul und Vir¬ ginia und „La Chaumière indienne“ von Bernardin de Saint Pierre, und ich hatte alſo auch uͤbrigens mei¬ nen Kauf nicht zu bereuen. Ich las das Buch mit Freuden; der reine herrliche Sinn des Verfaſſers er¬ quickte mich, und ſeine zarte Kunſt, beſonders wie er bekannte Gleichniſſe ſchicklich anwendet, wußte ich zu erkennen und zu ſchaͤtzen. Auch die erſte Bekanntſchaft mit Rouſſeau und Montesquieu habe ich hier gemacht; damit aber mein Brief nicht ſelbſt zum Buche werde, ſo will ich uͤber dieſe, ſo wie uͤber vieles Andere, das ich noch ſagen moͤchte, fuͤr heute hinweggehen.

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/246>, abgerufen am 23.11.2024.