Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzu¬
streben vermöchte, ohne auf etwas Körperliches zu sto¬
ßen, so wäre dieses der Aufenthalt jener unbekannten
Göttinnen, zu denen Faust hinabgeht. Sie leben gleich¬
sam außer allem Ort, denn es ist nichts Festes das sie
in einiger Nähe umgiebt; auch leben sie außer aller
Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Gestirn, welches auf¬
oder unterginge und den Wechsel von Tag und Nacht
andeutete.

So, in ewiger Dämmerung und Einsamkeit behar¬
rend, sind die Mütter schaffende Wesen, sie sind das
schaffende und erhaltende Prinzip
, von dem
alles ausgeht, was auf der Oberfläche der Erde Gestalt
und Leben hat. Was zu athmen aufhört, geht als
geistige Natur zu ihnen zurück, und sie bewahren es,
bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Daseyn
zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was einst
war und künftig seyn wird, schweift in dem endlosen
Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es
umgiebt die Mütter, und der Magier muß also in ihr
Reich gehen, wenn er durch die Macht seiner Kunst über
die Form eines Wesens Gewalt haben, und ein früheres
Geschöpf zu einem Scheinleben hervorrufen will.

Die ewige Metamorphose des irdischen Daseyns, des
Entstehens und Wachsens, des Zerstörens und Wieder¬
bildens, ist also der Mütter nie aufhörende Beschäfti¬
gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde

hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzu¬
ſtreben vermoͤchte, ohne auf etwas Koͤrperliches zu ſto¬
ßen, ſo waͤre dieſes der Aufenthalt jener unbekannten
Goͤttinnen, zu denen Fauſt hinabgeht. Sie leben gleich¬
ſam außer allem Ort, denn es iſt nichts Feſtes das ſie
in einiger Naͤhe umgiebt; auch leben ſie außer aller
Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Geſtirn, welches auf¬
oder unterginge und den Wechſel von Tag und Nacht
andeutete.

So, in ewiger Daͤmmerung und Einſamkeit behar¬
rend, ſind die Muͤtter ſchaffende Weſen, ſie ſind das
ſchaffende und erhaltende Prinzip
, von dem
alles ausgeht, was auf der Oberflaͤche der Erde Geſtalt
und Leben hat. Was zu athmen aufhoͤrt, geht als
geiſtige Natur zu ihnen zuruͤck, und ſie bewahren es,
bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Daſeyn
zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was einſt
war und kuͤnftig ſeyn wird, ſchweift in dem endloſen
Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es
umgiebt die Muͤtter, und der Magier muß alſo in ihr
Reich gehen, wenn er durch die Macht ſeiner Kunſt uͤber
die Form eines Weſens Gewalt haben, und ein fruͤheres
Geſchoͤpf zu einem Scheinleben hervorrufen will.

Die ewige Metamorphoſe des irdiſchen Daſeyns, des
Entſtehens und Wachſens, des Zerſtoͤrens und Wieder¬
bildens, iſt alſo der Muͤtter nie aufhoͤrende Beſchaͤfti¬
gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0182" n="172"/>
hunderte von Meilen in <hi rendition="#g">einer</hi> Richtung darin fortzu¬<lb/>
&#x017F;treben vermo&#x0364;chte, ohne auf etwas Ko&#x0364;rperliches zu &#x017F;to¬<lb/>
ßen, &#x017F;o wa&#x0364;re die&#x017F;es der Aufenthalt jener unbekannten<lb/>
Go&#x0364;ttinnen, zu denen Fau&#x017F;t hinabgeht. Sie leben gleich¬<lb/>
&#x017F;am außer allem Ort, denn es i&#x017F;t nichts Fe&#x017F;tes das &#x017F;ie<lb/>
in einiger Na&#x0364;he umgiebt; auch leben &#x017F;ie außer aller<lb/>
Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Ge&#x017F;tirn, welches auf¬<lb/>
oder unterginge und den Wech&#x017F;el von Tag und Nacht<lb/>
andeutete.</p><lb/>
          <p>So, in ewiger Da&#x0364;mmerung und Ein&#x017F;amkeit behar¬<lb/>
rend, &#x017F;ind die Mu&#x0364;tter &#x017F;chaffende We&#x017F;en, &#x017F;ie &#x017F;ind <hi rendition="#g">das<lb/>
&#x017F;chaffende und erhaltende Prinzip</hi>, von dem<lb/>
alles ausgeht, was auf der Oberfla&#x0364;che der Erde Ge&#x017F;talt<lb/>
und Leben hat. Was zu athmen aufho&#x0364;rt, geht als<lb/>
gei&#x017F;tige Natur zu ihnen zuru&#x0364;ck, und &#x017F;ie bewahren es,<lb/>
bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Da&#x017F;eyn<lb/>
zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was ein&#x017F;t<lb/>
war und ku&#x0364;nftig &#x017F;eyn wird, &#x017F;chweift in dem endlo&#x017F;en<lb/>
Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es<lb/>
umgiebt die Mu&#x0364;tter, und der Magier muß al&#x017F;o in ihr<lb/>
Reich gehen, wenn er durch die Macht &#x017F;einer Kun&#x017F;t u&#x0364;ber<lb/>
die Form eines We&#x017F;ens Gewalt haben, und ein fru&#x0364;heres<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pf zu einem Scheinleben hervorrufen will.</p><lb/>
          <p>Die ewige Metamorpho&#x017F;e des irdi&#x017F;chen Da&#x017F;eyns, des<lb/>
Ent&#x017F;tehens und Wach&#x017F;ens, des Zer&#x017F;to&#x0364;rens und Wieder¬<lb/>
bildens, i&#x017F;t al&#x017F;o der Mu&#x0364;tter nie aufho&#x0364;rende Be&#x017F;cha&#x0364;fti¬<lb/>
gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0182] hunderte von Meilen in einer Richtung darin fortzu¬ ſtreben vermoͤchte, ohne auf etwas Koͤrperliches zu ſto¬ ßen, ſo waͤre dieſes der Aufenthalt jener unbekannten Goͤttinnen, zu denen Fauſt hinabgeht. Sie leben gleich¬ ſam außer allem Ort, denn es iſt nichts Feſtes das ſie in einiger Naͤhe umgiebt; auch leben ſie außer aller Zeit, denn es leuchtet ihnen kein Geſtirn, welches auf¬ oder unterginge und den Wechſel von Tag und Nacht andeutete. So, in ewiger Daͤmmerung und Einſamkeit behar¬ rend, ſind die Muͤtter ſchaffende Weſen, ſie ſind das ſchaffende und erhaltende Prinzip, von dem alles ausgeht, was auf der Oberflaͤche der Erde Geſtalt und Leben hat. Was zu athmen aufhoͤrt, geht als geiſtige Natur zu ihnen zuruͤck, und ſie bewahren es, bis es wieder Gelegenheit findet, in ein neues Daſeyn zu treten. Alle Seelen und Formen von dem was einſt war und kuͤnftig ſeyn wird, ſchweift in dem endloſen Raum ihres Aufenthaltes wolkenartig hin und her; es umgiebt die Muͤtter, und der Magier muß alſo in ihr Reich gehen, wenn er durch die Macht ſeiner Kunſt uͤber die Form eines Weſens Gewalt haben, und ein fruͤheres Geſchoͤpf zu einem Scheinleben hervorrufen will. Die ewige Metamorphoſe des irdiſchen Daſeyns, des Entſtehens und Wachſens, des Zerſtoͤrens und Wieder¬ bildens, iſt alſo der Muͤtter nie aufhoͤrende Beſchaͤfti¬ gung. Und wie nun bey allem, was auf der Erde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/182
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/182>, abgerufen am 27.11.2024.