Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude Lorrain und in welcher Schule er sich gebildet. "Sein nächster Meister, sagte Goethe, war Antonio Tasso; dieser aber war ein Schüler von Paul Brill, so daß also dessen Schule und Maximen sein eigentliches Fun¬ dament ausmachten und in ihm gewissermaßen zur Blüthe kamen; denn dasjenige was bey diesen Meistern noch ernst und strenge erscheint, hat sich bey Claude Lorrain zur heitersten Anmuth und lieblichsten Freyheit entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht hinaus."
"Übrigens ist von einem so großen Talent, das in einer so bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum zu sagen von wem es gelernt. Es sieht sich um, und eignet sich an, wo es für seine Intentionen Nahrung findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule der Carracci's eben so viel wie seinen nächsten namhaf¬ ten Meistern."
"So sagt man gewöhnlich: Julius Roman war ein Schüler von Raphael; aber man könnte eben so gut sagen: er war ein Schüler des Jahrhunderts. Nur Guido Reni hatte einen Schüler, der Geist, Gemüth und Kunst seines Meisters so in sich aufgenommen hatte, daß er fast dasselbige wurde und dasselbige machte, wel¬ ches indeß ein eigener Fall war, der sich kaum wieder¬ holt hat. Die Schule der Carracci dagegen war be¬ freyender Art, so daß durch sie jedes Talent in seiner
Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude Lorrain und in welcher Schule er ſich gebildet. „Sein naͤchſter Meiſter, ſagte Goethe, war Antonio Taſſo; dieſer aber war ein Schuͤler von Paul Brill, ſo daß alſo deſſen Schule und Maximen ſein eigentliches Fun¬ dament ausmachten und in ihm gewiſſermaßen zur Bluͤthe kamen; denn dasjenige was bey dieſen Meiſtern noch ernſt und ſtrenge erſcheint, hat ſich bey Claude Lorrain zur heiterſten Anmuth und lieblichſten Freyheit entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht hinaus.“
„Übrigens iſt von einem ſo großen Talent, das in einer ſo bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum zu ſagen von wem es gelernt. Es ſieht ſich um, und eignet ſich an, wo es fuͤr ſeine Intentionen Nahrung findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule der Carracci's eben ſo viel wie ſeinen naͤchſten namhaf¬ ten Meiſtern.“
„So ſagt man gewoͤhnlich: Julius Roman war ein Schuͤler von Raphael; aber man koͤnnte eben ſo gut ſagen: er war ein Schuͤler des Jahrhunderts. Nur Guido Reni hatte einen Schuͤler, der Geiſt, Gemuͤth und Kunſt ſeines Meiſters ſo in ſich aufgenommen hatte, daß er faſt daſſelbige wurde und daſſelbige machte, wel¬ ches indeß ein eigener Fall war, der ſich kaum wieder¬ holt hat. Die Schule der Carracci dagegen war be¬ freyender Art, ſo daß durch ſie jedes Talent in ſeiner
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0152"n="142"/><p>Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude<lb/>
Lorrain und in welcher Schule er ſich gebildet. „Sein<lb/>
naͤchſter Meiſter, ſagte Goethe, war <hirendition="#g">Antonio Taſſo</hi>;<lb/>
dieſer aber war ein Schuͤler von <hirendition="#g">Paul Brill</hi>, ſo daß<lb/>
alſo deſſen Schule und Maximen ſein eigentliches Fun¬<lb/>
dament ausmachten und in ihm gewiſſermaßen zur<lb/>
Bluͤthe kamen; denn dasjenige was bey dieſen Meiſtern<lb/>
noch ernſt und ſtrenge erſcheint, hat ſich bey Claude<lb/>
Lorrain zur heiterſten Anmuth und lieblichſten Freyheit<lb/>
entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht<lb/>
hinaus.“</p><lb/><p>„Übrigens iſt von einem ſo großen Talent, das in<lb/>
einer ſo bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum<lb/>
zu ſagen von wem es gelernt. Es ſieht ſich um, und<lb/>
eignet ſich an, wo es fuͤr ſeine Intentionen Nahrung<lb/>
findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule<lb/>
der Carracci's eben ſo viel wie ſeinen naͤchſten namhaf¬<lb/>
ten Meiſtern.“</p><lb/><p>„So ſagt man gewoͤhnlich: <hirendition="#g">Julius Roman</hi> war<lb/>
ein Schuͤler von Raphael; aber man koͤnnte eben ſo<lb/>
gut ſagen: er war ein Schuͤler des Jahrhunderts. Nur<lb/><hirendition="#g">Guido Reni</hi> hatte einen Schuͤler, der Geiſt, Gemuͤth<lb/>
und Kunſt ſeines Meiſters ſo in ſich aufgenommen hatte,<lb/>
daß er faſt daſſelbige wurde und daſſelbige machte, wel¬<lb/>
ches indeß ein eigener Fall war, der ſich kaum wieder¬<lb/>
holt hat. Die Schule der <hirendition="#g">Carracci</hi> dagegen war be¬<lb/>
freyender Art, ſo daß durch ſie jedes Talent in ſeiner<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[142/0152]
Ich fragte Goethe nach dem Herkommen von Claude
Lorrain und in welcher Schule er ſich gebildet. „Sein
naͤchſter Meiſter, ſagte Goethe, war Antonio Taſſo;
dieſer aber war ein Schuͤler von Paul Brill, ſo daß
alſo deſſen Schule und Maximen ſein eigentliches Fun¬
dament ausmachten und in ihm gewiſſermaßen zur
Bluͤthe kamen; denn dasjenige was bey dieſen Meiſtern
noch ernſt und ſtrenge erſcheint, hat ſich bey Claude
Lorrain zur heiterſten Anmuth und lieblichſten Freyheit
entfaltet. Über ihn konnte man nun weiter nicht
hinaus.“
„Übrigens iſt von einem ſo großen Talent, das in
einer ſo bedeutenden Zeit und Umgebung lebte, kaum
zu ſagen von wem es gelernt. Es ſieht ſich um, und
eignet ſich an, wo es fuͤr ſeine Intentionen Nahrung
findet. Claude Lorrain verdankt ohne Frage der Schule
der Carracci's eben ſo viel wie ſeinen naͤchſten namhaf¬
ten Meiſtern.“
„So ſagt man gewoͤhnlich: Julius Roman war
ein Schuͤler von Raphael; aber man koͤnnte eben ſo
gut ſagen: er war ein Schuͤler des Jahrhunderts. Nur
Guido Reni hatte einen Schuͤler, der Geiſt, Gemuͤth
und Kunſt ſeines Meiſters ſo in ſich aufgenommen hatte,
daß er faſt daſſelbige wurde und daſſelbige machte, wel¬
ches indeß ein eigener Fall war, der ſich kaum wieder¬
holt hat. Die Schule der Carracci dagegen war be¬
freyender Art, ſo daß durch ſie jedes Talent in ſeiner
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/152>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.