"Bey den Briefen, sagte er, die ich in jener Pe¬ riode geschrieben, sehe ich recht deutlich, wie man in jedem Lebensalter gewisse Avantagen und Desavantagen, in Vergleich zu früheren oder späteren Jahren hat. So war ich in meinem vierzigsten Jahre über einige Dinge vollkommen so klar und gescheidt als jetzt und in man¬ chen Hinsichten sogar besser; aber doch besitze ich jetzt in meinem achtzigsten Vortheile, die ich mit jenen nicht vertauschen möchte."
Während Sie dieses reden, sagte ich, steht mir die Metamorphose der Pflanze vor Augen, und ich begreife sehr wohl, daß man aus der Periode der Blüthe, nicht in die der grünen Blätter, und aus der des Samens und der Früchte nicht in die des Blüthen¬ standes zurücktreten möchte.
"Ihr Gleichniß, sagte Goethe, drückt meine Mei¬ nung vollkommen aus. Denken Sie sich ein recht aus¬ gezacktes Blatt, fuhr er lachend fort, ob es aus dem Zustande der freyesten Entwickelung in die dumpfe Be¬ schränktheit der Cotyledone zurückmöchte? -- Und nun ist es sehr artig, daß wir sogar eine Pflanze haben, die als Symbol des höchsten Alters gelten kann, indem sie, über die Periode der Blüthe und der Frucht hinaus, ohne weitere Production noch munter fortwächst."
"Das Schlimme ist, fuhr Goethe fort, daß man im Leben so viel durch falsche Tendenzen ist gehindert
„Bey den Briefen, ſagte er, die ich in jener Pe¬ riode geſchrieben, ſehe ich recht deutlich, wie man in jedem Lebensalter gewiſſe Avantagen und Desavantagen, in Vergleich zu fruͤheren oder ſpaͤteren Jahren hat. So war ich in meinem vierzigſten Jahre uͤber einige Dinge vollkommen ſo klar und geſcheidt als jetzt und in man¬ chen Hinſichten ſogar beſſer; aber doch beſitze ich jetzt in meinem achtzigſten Vortheile, die ich mit jenen nicht vertauſchen moͤchte.“
Waͤhrend Sie dieſes reden, ſagte ich, ſteht mir die Metamorphoſe der Pflanze vor Augen, und ich begreife ſehr wohl, daß man aus der Periode der Bluͤthe, nicht in die der gruͤnen Blaͤtter, und aus der des Samens und der Fruͤchte nicht in die des Bluͤthen¬ ſtandes zuruͤcktreten moͤchte.
„Ihr Gleichniß, ſagte Goethe, druͤckt meine Mei¬ nung vollkommen aus. Denken Sie ſich ein recht aus¬ gezacktes Blatt, fuhr er lachend fort, ob es aus dem Zuſtande der freyeſten Entwickelung in die dumpfe Be¬ ſchraͤnktheit der Cotyledone zuruͤckmoͤchte? — Und nun iſt es ſehr artig, daß wir ſogar eine Pflanze haben, die als Symbol des hoͤchſten Alters gelten kann, indem ſie, uͤber die Periode der Bluͤthe und der Frucht hinaus, ohne weitere Production noch munter fortwaͤchſt.“
„Das Schlimme iſt, fuhr Goethe fort, daß man im Leben ſo viel durch falſche Tendenzen iſt gehindert
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„Bey den Briefen, ſagte er, die ich in jener Pe¬
riode geſchrieben, ſehe ich recht deutlich, wie man in
jedem Lebensalter gewiſſe Avantagen und Desavantagen,
in Vergleich zu fruͤheren oder ſpaͤteren Jahren hat. So
war ich in meinem vierzigſten Jahre uͤber einige Dinge
vollkommen ſo klar und geſcheidt als jetzt und in man¬
chen Hinſichten ſogar beſſer; aber doch beſitze ich jetzt
in meinem achtzigſten Vortheile, die ich mit jenen nicht
vertauſchen moͤchte.“
Waͤhrend Sie dieſes reden, ſagte ich, ſteht mir die
Metamorphoſe der Pflanze vor Augen, und
ich begreife ſehr wohl, daß man aus der Periode der
Bluͤthe, nicht in die der gruͤnen Blaͤtter, und aus der
des Samens und der Fruͤchte nicht in die des Bluͤthen¬
ſtandes zuruͤcktreten moͤchte.
„Ihr Gleichniß, ſagte Goethe, druͤckt meine Mei¬
nung vollkommen aus. Denken Sie ſich ein recht aus¬
gezacktes Blatt, fuhr er lachend fort, ob es aus dem
Zuſtande der freyeſten Entwickelung in die dumpfe Be¬
ſchraͤnktheit der Cotyledone zuruͤckmoͤchte? — Und nun
iſt es ſehr artig, daß wir ſogar eine Pflanze haben, die
als Symbol des hoͤchſten Alters gelten kann, indem ſie,
uͤber die Periode der Bluͤthe und der Frucht hinaus,
ohne weitere Production noch munter fortwaͤchſt.“
„Das Schlimme iſt, fuhr Goethe fort, daß man
im Leben ſo viel durch falſche Tendenzen iſt gehindert
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/148>, abgerufen am 30.01.2025.
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